Servus. Grüezi. Hallo.: Politiker können ganz schön eigensinnig sein
Warum die österreichische Neos-Politikerin Stephanie Krisper auf ihr Parlamentmandat verzichtet und wie deutsche und österreichische Parteien mit inneren Reibungen umgehen.
Servus. Grüezi. Hallo.
3320 min audioIm aktuellen transalpinen Podcast „Servus. Grüezi. Hallo.“ diskutieren Lenz Jacobsen (ZEIT Berlin) und Florian Gasser (ZEIT Wien, heute in Innsbruck) über Politiker:innen, die ihre Fraktion oder Partei verlassen – sei es aus Protest, Überzeugung oder Karriere. Matthias Daum fehlt heute, weil er sich auf das bevorstehende Treffen aller drei im Wiener Burgtheater vorbereitet. Im Fokus steht die österreichische Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper, die freiwillig auf ihr Nationalratsmandat verzichtet, weil sie als Menschenrechtsexpertin und harte Oppositionskontrolleurin unter der Regierungsbeteiligung der Neos keinen Sinn mehr in ihrer Arbeit sieht. Die Moderatoren ordnen Krisper ein, dass sie aus Loyalitätskonflikten – etwa zu geplanter Messenger-Überwachung oder Familienzusammenführung – gehe, aber die Partei nicht verlässt. Sie bleibt im erweiterten Bundesvorstand. Im deutsch-österreichischen Vergleich werden prominente Abweichler:innen wie Oskar Lafontaine, Sarah Wagenknecht (BSW), Jörg Haider (BZÖ), Heide Schmidt (Liberale Forum → Neos), Peter Pilz oder Frank Stronach (Team Stronach) besprochen. Diskutiert wird, wann Eigensinn produktiv (Hans-Christian Ströbele, Grüne) oder zerstörerisch wird und wie Parteien mit inneren Konflikten umgehen. Dabei zeigen sich unterschiedliche Kulturen: Österreichs ÖVP institutionalisiert Streit durch ihre Bünde (Wirtschaft, Bauern, Arbeitnehmer), während in Deutschland Flügel und informelle Netzwerke dominieren, die durch Social-Media-Öffentlichkeit stärker unter Druck stehen. Ein zweiter, lockerer Block beschäftigt sich mit Achterbahnen im Wiener Prater und einem Physiker, der die perfekte Pasta „Cacio e Pepe“ mittels Phasentheorie entwickelt hat. Ein kurzer Exkurs widmet sich dem Prozess gegen ÖVP-Klubchef August Wöginger wegen Amtsmissbrauch (Postenschacher), bei dem durch Diversion Geldstrafen verhängt, aber keine Schuld eingestanden wurde. Die Reaktionen von Parteikollegen („übliches politisches Handeln“) werden kritisch kommentiert.
### 1. Krisper verlässt Parlament, nicht Partei
Die Neos-Menschenrechtsexpertin Stephanie Krisper legt ihr Mandat nieder, weil sie als Oppositionsabgeordnete in der Regierung keine „Wirkung“ mehr sieht. Sie bleibt Parteimitglied und im erweiterten Bundesvorstand, wodurch ihr Schritt weniger Bruch als Verzicht auf parlamentarische Bühne ist.
### 2. Regierungsbeteiligung als Zündkabel
Krisper kritisiert, dass kleine Koalitionspartner Kompromisse eingehen müssen, die ihre Kernfelder (Datenschutz, Menschenrechte) beschneiden. Die Folge: Frustration über „reduziertes Wirkungsfeld“, obwohl Regierungsarbeit formal mehr Gestaltungskraft bietet.
### 3. Parlamentarische Abweichler: Typologie
Die Diskussion führt über Lafontaine (SPD → Linke), Wagenknecht (Linke → BSW), Pilz (Grüne → Liste Pilz), Haider (FPÖ → BZÖ) bis zu Stronach: Manche verlassen die Partei, behalten Mandat; Krisper tut das Gegenteil. Die Fälle zeigen: Erfolg ist ungewiss, Ego nicht.
### 4. Institutionalisierter Streit: ÖVP-Bünde
Die österreichische ÖVP löst Konflikte durch starke Teilorgs (Wirtschaftsbund, Bauernbund etc.). Offene Auseinandersetzung ist erlaubt, weil Mehrheitsfindung über Bünde formal geregelt ist – ein Kontrast zu deutschen informellen Flügeln.
### 5. Social-Media-Beschleunigung
Digitale Öffentlichkeit macht abweichende Positionen sofort sichtbar und „zerreisst“ scheinbar jede Vielfalt. Frühere regionale Unterschiede blieben unbeobachtet, heute gelten sie als „Streit“ – mit Folge: Parteien neigen zu Einheitslinie.
### 6. Postenschacher bleibt Alltag
Der Verdacht gegen ÖVP-Fraktionschef August Wöginger, eine Finanzamtsleiterin zugunsten parteinaher Kandidaten übergangen zu haben, endet durch Diversion gegen Geldstrafe ohne Schuldeingeständnis. Die Reaktion der Parteispitze („erledigt“, „übliches Handeln“) zeigt, dass informelle Seilschaften weiterhin gern gesehen sind.
## Einordnung
Der Podcast liefert kein journalistisches Verhör, sondern ein kultiviertes Gespräch mit historischem Bogen und vielen Belegen. Die Moderatoren bleiben sachlich, lassen sich durch persönliche Anekdoten (Urlaubsplanung, Pasta-Physik) nicht aus der politischen Analyse abbringen und beweisen starke Recherche (Wahlplakate, Statuten, Prozesstermine). Besonders wertvoll ist der systematische Vergleich: Die österreichische Praxis, Parteien durch Bünde zu „zerlegen“, wird gegenüber dem deutschen Flügel- und Netzwerkprinzip nicht nur beschrieben, sondern als strukturelle Antwort auf wachsende Koalitionsdrucke gedeutet. Dabei bleibt die Kritik an Machtverflechtungen (Postenschacher) deutlich, ohne in parteipolitische Wertung zu verfallen. Was fehlt, sind Expert:innen außerhalb der Politik (etwa Parteienforscher:innen) und eine stärkere Geschlechterperspektive – Krisper bleibt isolierter Einzelfall, obwohl ihr Schritt Muster struktureller Unterrepräsentierung aufbricht. Dennoch: Die Sendung bietet eine klare, faktenreiche Orientierungshilfe für Hörer:innen, die zwischen Eigensinn, Ego und echte Reformkraft unterscheiden wollen. Keine Verschwörungsmythen, keine Esoterik, kein rechtes Gedankengut – stattdessen Journalismus mit Tiefgang und unterhaltsamen Exkursen.