Víðsjá ist ein isländischer Kulturpodcast, moderiert von Halla Harðardóttir und Melkorka Ólafsdóttir. In dieser 80-minütigen Folge vom 27. Oktober stehen drei Themen im Fokus: die Ausstellung „Þær“ der Textilkünstlerin Gerla im Glerhús, die sich mit vergessener weiblicher Handwerkskunst auseinandersetzt; eine literarische Auseinandersetzung mit zwei Texten Goethes (Novella und Ævintýri) durch Gauti Kristmannsson; sowie eine stilistisch ambitionierte, literarisch erzählte Szene über Bruce Springsteen 1981 in St. Louis, in der es um kreative Krise, Identität und das Spannungsverhältnis zwischen Star und Publikum geht. ### 1. Gerlas Ausstellung „Þær“ rehabilitiert Textilarbeit als Kunstform Gerla erinnert daran, dass Textilien jahrhundertelang als „weiblicher“ und weniger wertvoller Kulturtrakt galten. Sie habe sich 1987 für Textilkunst entschieden, weil sie das als Akt feministischer Gerechtigkeit verstanden habe. „Textíll er miðill konunnar að tjá sig“, sagt sie. ### 2. Die Ausstellung verbindet persönliche Erinnerung mit kollektiver Geschichte Gerla nutzt alte Stickmuster aus isländischen Haushalten, druckt ihre eigenen Fotos von verlassenen Häusern auf Stoffe und stickt sie mit Baumwollfäden auf Damast. So entstünden „drei Schichten“: das Foto, das historische Muster und das Material, das sie aus ihrer Familie mitbekam. ### 3. Goethe-Texte werden als späte Formexperimente gelesen Gauti Kristmannsson betont, dass Goethe mit Novella und Ævintýri zwei kleine Formen gewählt habe, die „áður óheyrður atburður“ zeigen. Beide seien literarische Experimente zwischen Klassik und Romantik, wobei Ævintýri als frühes Kunstmärchen gelten könne. ### 4. Springsteen-Sequenz inszeniert kreative Leere und gesellschaftlichen Wandel Die inszenierte Begegnung mit einem Fan 1981 zeige, wie Springsteen angesichts von Reagans Wahl und einer leeren kreativen Seite „tabula rasa“ mit dem Bild des amerikanischen Outdoorsmen und sozialen Spaltungen konfrontiert werde. Die Szene endet offen: „Það skilur þetta enginn. Það skilja þetta allir.“ ### 5. Feministische Perspektive fehlt bei Springsteen-Rezeption Während Gerla explizit weibliche Erfahrung sichtbar macht, bleibt der Blick auf Springsteen maskulin-zentriert. Wedem weiblichen Fan noch andere Stimmen werden in der literarischen Szene Raum gegeben. Die Folge reproduziert damit eine gängige Rock-'n'-Roll-Myse ohne sie zu hinterfragen. ## Einordnung Die Sendung mischt journalistische Elemente mit literarischer Inszenierung. Gerlas Ausstellung wird sorgfältig kontextualisiert, die Goethe-Besprechung wirkt akademisch fundiert. Die Springsteen-Sequenz dagegen ist stilistisch ambitioniert, aber inhaltlich unausgeglichen: Sie zitiert zwar amerikanische Kulturikonen, bleibt aber in der Perspektive des männlichen Stars gefangen. Der Podcast zeigt, wie Kulturgeschichte geschrieben – und dabei auch ausgeblendet wird. Die Feministin Gerla fordert Anerkennung für „weibliche“ Handwerkskunst, während die literarische Springsteen-Episode klassische Rockmythen ohne Gegenstimmen zementiert. Die Formatebene bleibt dabei unreflektiert: Während Textilkunst als „weiblich“ marginalisiert wurde, wird hier Rockmusik als männliches Selbstgespräch inszeniert – ohne dass die Sprecherinnen diese Diskrepanz thematisieren. Das ist stilistisch gelungen, aber diskursiv unausgewogen.