DER SPIEGEL und DER STANDARD rekonstruieren in der Firewall-Folge "Jan Marsalek: Der Agent aus Moskau", wie der ehemalige Wirecard-Vorstand nach seiner Flucht 2020 in Russland eine neue Existenz als mutmaßlicher Geheimdienstler aufbaut. Recherchen eines internationalen Teams (u. a. Spiegel, ZDF, The Insider) zeigen, dass Marsalek seit Sommer 2023 unter der Tarnidentität „Alexander Nelidov“ in Moskau lebt, offenbar vom FSB protegiert und in ein Netzwerk für Spionage- und Sabotagehandlungen verstrickt ist. Die Journalist:innen Sandra Sperber (Host) und Roman Lehberger (Investigativ-Reporter, Schwerpunkt Innere Sicherheit) legen detailliert offen, wie Marsalek mutmaßlich österreichische Handys aus dem Innenministerium beschaffte, einen Agentenring in London dirigierte und sich wiederholt im besetzten Teil der Ukraine aufhielt – vermutlich als Kämpfer. Die Redaktion konfrontierte Marsalek via Telegram-Chat, worauf dieser seine Identität weder bestätigte noch dementierte, sondern weiter Gespräche führt. ### 1. Tarnidentität „Alexander Nelidov“ Laut Recherche sei Marsalek im Juni 2023 offiziell als 45-jähriger Ukrainer mit russischem Pass gemeldet worden; frühere Spuren fehlten vollständig. „Das können wir belegen, das können wir nachweisen, das ist nach unseren Recherchen die erste echte russische Identität, die Jan Marsalek dort in Russland bekommen hat.“ ### 2. Agentennetzwerk von Moskau aus gesteuert Marsalek habe ab 2020 eine sechsköpfige bulgarische Gruppe in London angeleitet; diese spähte unter anderem eine US-Luftwaffenbasis in Stuttgart aus und brach in ein Journalisten-Büro ein. „Er hat seinen Spionen in London via Telegram Aufträge geschickt… die Briten fanden hunderttausende Chatnachrichten.“ ### 3. Handys aus österreichischem Innenministerium beschafft 2022 soll eine FSB-Botin drei ehemalige Beamtenhandys von Wien über Istanbul nach Moskau geschmuggelt haben, die zuvor bei einem Betriebsausflug „ins Wasser gefallen“ waren. „Diese Handys … haben ihren Weg gefunden zu Marsaleks Spionen.“ ### 4. Mehrere Reisen in die Ukraine, vermutlich an die Front Handystandort- und Grenzdaten legen nahe, dass Marsalek sich mindestens fünfmal im Kriegsgebiet aufhielt, zuletzt im Frühjahr 2024. „Es spricht alles dafür, dass das eben Leute sind, die eingezogen wurden, um dort an der Front zu kämpfen und Marsalek war Teil dieser Reisegruppe.“ ### 5. Privatleben und Verwundbarkeit in Moskau Trotz Haftbefehl bewege sich Marsalek frei durch Moskau, fahre E-Scooter, erhalte Strafzettel, besuche zur Lubjanka. „Er ist dort ein ganz normaler Bürger … aber er muss sich dort an dienen … sonst läuft er Gefahr, dass dieser Schutz wieder aufhört.“ ### 6. Kontaktaufnahme der Redaktion via Telegram Als die Journalist:nen die gefundene Handynummer kontaktierten, lehnte der Gesprächspartner den Anruf ab, antwortete aber schriftlich: „Die gibt es hier nicht, Sie haben sich verwählt.“ Das Gespräch werde fortgesetzt, „vielleicht findet er es auch amüsant … verstecken zu spielen.“ ## Einordnung Die 42-minütige Reportage arbeitet wie ein Kriminalfilm mit Spannungsbogen, O-Ton und originalen Dokumenten. Die Machart ist professionell: Sich selbst als „Investigativteam“ positionierend, nutzen die Spiegel-Redakteur:innen Datenleaks, Überwachungsfotos und Gerichtsakten, werten sie gemeinsam mit Partnermedien aus und liefern eine schlüssige Beweiskette. Die Sprache bleibt klar, zugleich atmosphärisch („eine Fuck-up-Story“, „Adrenalin-Junkie“). Auffällig ist, dass kaum externe Expertenstimmen zu Wort kommen; die Deutungshoheit liegt ausschließlich beim Recherchekollektiv. Kritische Gegenfragen, etwa zur rechtlichen Bewertung von Standortdaten oder zur Einbettung in geopolitische Interessen, bleiben aus. Der Fokus auf das individuelle Fehlverhalten Marsaleks verlagert die Aufmerksamkeit weg von systemischen Fragen – etwa warum westliche Geheimdienste erst nach Jahren über ihn informiert sind. Stilistisch bleibt der Ton entspannt, fast voyeuristisch, etwa wenn über Haartransplantationen oder „Beuteschema“ berichtet wird. Insgesamt liefert der Beitrag aber eine dichte, gut recherchierte und medienwirksame Geschichte über einen der spektakulärsten deutschen Wirtschaftskriminellen, der im Schutz Russlands zur Gefahr für europäische Sicherheit werden könnte. Hörempfehlung: Wer aufwendig recherchierte Spionagegeschichten mag und sich für internationale Agentennetzwerke interessiert, bekommt hier einen spannenden, faktenreichen Einblick – mit dem Wissen, dass die Perspektive ausschließlich westlicher Journalist:innen bleibt.