Im Podcast "Nach Redaktionsschluss" diskutieren der Hörer Detlef Siegel mit dem Deutschlandfunk-Hauptstadtkorrespondenten Friedbert Meurer und der Medienforscherin Alexandra Borchardt über die Vorberichterstattung zu politischen Großereignissen wie NATO- oder EU-Gipfeln. Sie analysieren, warum Medien Wochen im Voraus über mögliche Ausgänge, Teilnehmerkonstellationen und Streitthemen spekulieren, obwohl das Ereignis selbst danach oft als enttäuschend banal wirkt. ### Die Ökonomie der Vorberichterstattung Borchardt erklärt, Vorberichterstattung sei für Redaktionen vergleichsweise billig: „Man muss nicht wirklich vor Ort sein, man muss keine Quellen suchen, man muss keine Hintergrundgespräche führen, sondern man kann ja meistens auf Pressemitteilungen, Agenturmeldungen zugreifen.“ ### Der Krimi-Charakter politischer Großereignisse Beide Gesprächspartner:innen beschreiben die Vorberichterstattung als spannenden „Krimi“: „Man weiß noch nicht, wer der Täter ist, man weiß noch nicht, wie die Geschichte ausgeht“, sagt Borchardt. Dieser Spannungsbogen ziehe sowohl Journalist:innen als auch Publikum an. ### Selbstaufgabe der journalistischen Zurückhaltung Meurer räumt ein, dass Journalist:innen sich „selber ein bisschen zügeln“ müssten: „Wir müssen auch manchmal uns zurückhalten und sagen, so, jetzt ist gut.“ Der Konkurrenzdruck führe jedoch dazu, dass jede:r zuerst berichten wolle. ### Die Entzauberung des eigentlichen Ereignisses Durch die intensive Vorberichterstattung erleben viele Rezipient:innen das eigentliche Ereignis als enttäuschend: „Bis das Ereignis dann tatsächlich da ist, hat man eigentlich schon alles gehört, was man überhaupt hören wollte“, konstatiert Borchardt. ## Einordnung Die Diskussion entlarvt ein zentrales Paradox des modernen Journalismus: Je mehr Medien über zukünftige Ereignisse berichten, desto weniger überraschend wirken diese, wenn sie eintreten. Die Gesprächspartner:innen fokussieren sich auf ökonomische und psychologische Erklärungen, vermeiden aber die Frage nach den politischen Funktionen dieser Vorberichterstattung. Dabei bleibt unbeleuchtet, wie durch die permanente Spekulation Politik als dramatisches Theater inszeniert wird, das Aufmerksamkeit bindet und alternative Themen verdrängt. Bemerkenswert ist die Selbstreferentialität: Die Sendung selbst ist Teil des Problems, das sie analysiert – sie produziert exakt die Art von Vorberichterstattung, die der Hörer kritisiert. Die Expert:innen positionieren sich als machtlose Beobachter:innen eines Systems, das sie mitgestalten. Die Diskussion bleibt damit in einer defensiven Logik gefangen: Journalismus als notwendiges Übel der Aufmerksamkeitsökonomie, statt als demokratische Ressource. Hörwarnung: Wer Antworten auf die Frage sucht, warum Medien trotz aller Selbstkritik nichts ändern, wird enttäuscht – die Sendung bleibt bei bequemen Schuldzuweisungen an „die Schnelligkeit unserer Zeit“.