Was jetzt?: Spezial: Junge Menschen an die Front?
ZEIT-Sicherheitsexperte Hauke Friederrichs erklärt im Spezial-Podcast, warum eine Rückkehr zur Wehrpflicht für Männer kurzfristig möglich, aber weder gerecht noch wirkungsvoll ist.
Was jetzt?
41 min read2074 min audioIm ZEIT-Podcast „Was jetzt? Spezial“ diskutiert Sicherheitskorrespondent Hauke Friederichs mit Moderator Moses Fendel die Frage, wie Deutschland bis 2029 80.000 zusätzliche Soldat:innen gewinnen will. Ausgangspunkt ist die Einschätzung von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, Russland könne ab 2029 die NATO militärisch angreifen. Dafür, so das Fazit, braucht die Bundeswehr dringend mehr Personal – doch wie? Die Episode lotet mehrere Optionen aus: die Wiedereinführung der 2011 ausgesetzten Wehrpflicht für Männer, eine verfassungsänderungspflichtige allgemeine Dienstpflicht für alle Geschlechter oder ein schwedisch inspiriertes freiwilliges Modell mit Zugriffsrecht auf alle 18-Jährigen. Friederichs durchleuchtet dabei historische und aktuelle Modelle, rechtliche Hürden, Gender-Gerechtigkeit, Motivationsprobleme und praktische Hemmnisse wie fehlende Kasernen oder Musterungsstrukturen. Zwischen den Zeilen wird klar: Eine Rückkehr zur Wehrpflicht ist politisch kurzfristig möglich, langfristig aber weder rechtlich unproblematisch noch für alle Beteiligten überzeugend. Die Debatte steht exemplarisch für den Spagat zwischen Sicherheitsbedürfnis, Gleichstellungsanspruch und Generationengerechtigkeit.
### 1. Geheimdienste gehen davon aus, dass Russland ab 2029 wieder in der Lage sein könnte, die NATO militärisch zu bedrohen
Friederichs erklärt, die Schätzung basiere auf vertraulichen Geheimdienstinformationen zur Rüstungs- und Rekrutierungsleistung Russlands. Die militärischen Verluste in der Ukraine würden sukzessive ersetzt. „Wenn die Zahlen stimmen, die man erfahren kann, dann auch mit Erfolg“, sagt Friederichs. Die Schlussfolgerung der Dienste: „Russland ab 2029 wieder in der Lage ist, die NATO militärisch herauszufordern und zu bedrohen.“
### 2. Die Wehrpflicht dürfte laut Friederichs keine Lösung für den personellen Engpass sein, weil Zwang schlechte Motivation bedeute
Ein zentrales Motivationsproblem sieht Friederichs darin, dass „Leute kommen, die sechs Monate dann verpflichtet werden“. Viele würden „jeden Tag das Maßband ein Stückchen abschneiden“ oder „öfter mal krank sein, weil er einfach frustriert ist“. Der Nutzen für die Truppe sei gering, weil „in sechs Monaten lernt man natürlich kein komplexes Waffensystem kennen“. Die Hoffnung Pistorius’, aus Pflichtdienern Berufssoldaten zu gewinnen, hält er für „optimistisch“.
### 3. Die Verfassung erlaubt nur eine Wehrpflicht für Männer – eine allgemeine Dienstpflicht würde eine Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit erfordern
Friederichs verweist auf Artikel 12a GG, der nur Männer zum Wehrdienst heranzieht. Eine geschlechteroffene Pflicht wäre „verfassungsänderungspflichtig“, die dafür nötige Koalition aus SPD, Union und weiteren Fraktionen bestehe derzeit nicht. Ohne Verfassungsänderung drohe ein „Lotterie-Modell“, das nur Männer erfasse und damit „in Karlsruhe keinen Bestand haben wird“, weil es gegen Gleichstellungsgrundsätze verstoße.
### 4. Friederichs hält ein freiwilliges Jahr für alle Geschlechter – militärisch oder zivil – für sinnvoll, weil es Gesellschaft und Pflegebereiche stärke
Er spricht sich für eine „allgemeine Dienstpflicht“ aus: „Ich finde, das wäre eine gute Option, wenn nicht das Grundgesetz da im Weg stünde.“ Sie würde „junge Leute aus ihren Blasen holen“, könne Pflegeheime, Kitas und Schulen entlasten und „gleiche Pflichten für alle“ schaffen. Das Modell sei jedoch „derzeit nicht in Sicht“, weil AfD, Linke und Grüne unterschiedlich, aber blockierend dagegen stünden.
### 5. Weder Infrastruktur noch Personalkapazitäten existieren derzeit für eine flächendeckende Wiedereinführung der Wehrpflicht
Friederichs listet auf: „Wir haben gar nicht mehr die Infrastruktur zur Erfassung und Musterung“; „Kreiswehrersatzämter“ seien aufgelöst, Kasernen fehlten. Für 2027 angedachte 300.000 Musterungen pro Jahrgang würden einen „Kraftakt“ erfordern, der „Teile der Bundeswehr lähmen wird“. Auch fehlten Kommissionen zur Prüfung von Gewissensentscheidungen – „alles muss neu aufgebaut werden“.
## Einordnung
Der Podcast bietet journalistisch aufbereitete Information statt Polemik. Friederichs differenziert sauber zwischen Faktenlage, rechtlichen Möglichkeiten und politischen Wunschträumen. Besonders herausgearbeitet wird das Spannungsfeld zwischen Sicherheitsinteresse, Gleichstellungsanspruch und Generationengerechtigkeit. Die Moderation gelingt es, komplexe Zusammenhänge in Fragen zu übersetzen und Hörerperspektiven einzubinden. Kritisch bleibt, dass wirtschafts-, sozial- und entwicklungspolitische Gegenentwürfe zu höheren Rüstungsausgaben kaum vorkommen; die Debatte bleibt innerhalb des sicherheitspolitischen Frames. Der Fokus auf den Zeitpunkt 2029 verleiht der Episode Dringlichkeit, ohne in Panik umzuschlagen. Insgesamt ein informatives, gut recherchiertes Gespräch, das Argumente pro und contra transparent macht und Hörer:innen eine solide Entscheidungsgrundlage für die Wehrpflicht-Debatte liefert.