Wohlstand für Alle: Ep. 321: Nudging – neoliberal oder notwendig?
Die Podcast-Folge beleuchtet in unterhaltsamer Runde das Für und Wider von Nudging – bleibt aber bei Oberflächlichem stecken.
Wohlstand für Alle
33 min read3831 min audioIm Podcast „Wohlstand für Alle“ unterhalten sich Ole Nupen und Wolfgang M. G. Schmitt über das Konzept des „Nudging“, das 2008 aus dem gleichnamigen Buch von Richard H. Sunstein und Cass R. Schmitt bekannt wurde. Sie diskutieren, ob es sich bei dem „liberalen Paternalismus“ um ein neoliberales Werkzeug handelt oder auch für linke Politik nutzbar ist. Nudging beschreibt die Lenkung von Entscheidungen durch Veränderung der Umgebung ohne Zwang oder Geldanreize. Schmitt sieht darin die Gefahr einer Entmündigung von Bürger.innen, Nupen hält es für ein unproblematisches Hilfsmittel, demokratisch legitimierte Ziele wie Organspenden oder gesunde Ernährung zu fördern. Sie streiten über mögliche Folgen, Klima- und Sozialpolitik und die Frage, ob der Staat Verhalten „anstoßen“ sollte.
### 1. Nudging ist kein Zwang, sondern ein „kleiner Anstoß"
Die Gesprächspartner einigten sich darauf, dass Nudging per Definition nur die Rahmenbedingungen verändert, ohne Sanktionen oder materielle Anreize zu nutzen. Nupen sieht darin eine harmlose Unterstützung, etwa „gesunde Speisen in der Mensa auf Augenhöhe zu platzieren“. Schmitt warnt, schon die Festlegung einer „Default-Option“ sei ein machtvoller Eingriff, weil viele Menschen den voreingestellten Pfad nicht verlassen. Das erinnere ihn an die Zeit der Corona-Politik, wo der Staat Verhalten massiv beeinflusst habe, obwohl dieses Beispiel nicht alle Definitionen von Nudging erfülle.
### 3. Die Grenze zwischen Anreiz und Manipulation bleibe fließend
Obwohl Gratis-Burger als Impfanreiz nicht zu Nudging zählen, zeigt die Diskussion die Grauzone auf. Schmitt spricht von „materiellen Anreizen“, Nupen besteht darauf, dass „echtes“ Nudging frei von solchen Verlockungen bleibt. Beide kritisieren die Verengung der Debatte auf Einzelfälle und fordern klare Kriterien, wann ein „Anstoß“ zur Bevormundung wird.
### 4. Nupen hält Nudging für linkes Potenzial – Schmitt für Reformkleinwerkzeug
Nupen argumentiert, Nudging könne solidarische Ziele stärken, etwa Spendenbereitschaft steigern oder altersgerechte Vorsorge erleichtern. Linke Politik brauche neben strukturellen Maßnahmen auch solche „kleinen Schrauben". Schmitt glaubt, progressive Politik dürfe sich nicht auf „Symptomkorrekturen" beschränken, sondern müsse Macht- und Eigentumsverhältnisse ändern. Die Verantwortung fürs Klima bei Individuen durch „vegaleichte" Supermarktplatzierung zu delegieren, lenke von notwendigen Industrieumbauten ab.
### 5. Die größte Streitfrage: Welche Macht darf der demokratische Staat nutzen?
Schmitt betont, schon die Festlegung „was gut sei“ sei eine moralische Wertung, die von Eliten über Bürger:innen vorgenommen werde. Er fürchtet eine „Verantwortungsverschiebung“ und „Infantilisierung“. Nupen kontert: „Der Staat definiert immer, was im öffentlichen Interesse liegt – etwa durch Steuern oder Gesetze.“ Wichtig sei demokratische Legitimation, nicht ob manche Lenkung bürgerlich oder paternalistisch wirke. Letztlich bleiben beide uneins, ob Nudging die Entscheidungskompetenz stärkt oder untergräbt.
## Einordnung
Die Episode wirkt wie ein freundschaftliches Nach-Denken statt wie ein investigatives Format. Die Gesprächspartner bleiben auf inhaltlicher Ebene höflich und schließen sich weder grundlegend aneinander an noch kommen sie zu einem klaren Fazit. Das ist für ein Unterhaltungsformat legitim, führt aber zu keiner tiefergehenden Analyse von Interessenkonflikten, die hinter der „Anstoß-Logik“ stecken könnten (Wer profitiert von welchen Defaults?). Kritische Stimmen – etwa Datenschützer:innen, Behindertenverbände oder Betroffene „falscher“ Nudges – fehlen völlig. Gleichzeitit bleibt unklar, warum überhaupt der Vorwurf „neoliberal“ auftaucht: Weder werden Marktmechanismen zur Legitimation von Nudging herangezogen noch werden konkrete Unternehmensinteressen an Lenkungstechniken besprochen. Schmitt und Nupen reproduzieren damit eher die westliche Mittelschichtsperspektive „vernünftiger“ Lenkung statt gesellschaftliche Machtfragen zu thematisieren. Der Dialog bleibt unterhaltsam und wirkt für Hörer:innen lehrreich, die mit dem Begriff Nudging noch wenig anfangen können – wer tiefergehende Kritik oder progressive Alternativen sucht, wird nicht bedient.