Über den Tag hinaus: Wie produktiv ist Wut in der Politik, Marina Weisband?
Marina Weisband erklärt, warum Demokratie in Schulen, digitalen Räumen und der Politik neu gedacht werden muss – mit klaren Kritiken und konkreten Ideen.
Über den Tag hinaus
76 min read3937 min audioIm Podcast "Über den Tag hinaus" spricht Jan Philipp Albrecht mit Marina Weisband über Demokratie als gelebte Kultur, die Rolle von Schulen, Social Media, Lobbyismus und die Notwendigkeit von Hoffnung und Wut in politischen Prozessen. Weisband kritisiert, dass Demokratie oft nur als abstraktes Konzept gelehrt wird, statt als praktische Lebensform. Sie fordert mehr Beteiligung von Jugendlichen, echte digitale öffentliche Räume statt profitorientierter Plattformen und eine ehrlichere politische Kommunikation, die Emotionen zulässt. Besonders hervorzuheben ist ihre Analyse, dass Schulen Menschen nicht zu mündigen Bürgern erziehen, sondern Hilflosigkeit lehren – etwa wenn Schüler nie gefragt werden, sondern nur Anweisungen befolgen sollen. Auch ihre persönlichen Erfahrungen mit ME/CFS nutzt sie, um auf gesellschaftliche Ausgrenzung und das Versagen des Gesundheitssystems hinzuweisen. Den Krieg in der Ukraine sieht sie als gescheitertes Beispiel westlicher Halbherzigkeit, die langfristig Frieden gefährdet. Trotzdem bleibt sie optimistisch, weil Geschichte sich wie ein Pendel bewege und Gegenbewegungen möglich seien.
### Schulsystem produziere Hilflosigkeit statt Demokratie
Weisband argumentiert, das gegenwärtige Schulsystem bilde keine mündigen Menschen, sondern lehre „erlernte Hilflosigkeit“. Als Beleg führt sie an: „Die Lehrer machen doch eh, was sie wollen. Warum soll ich mich beteiligen? Ich habe hier ja doch keine Macht.“
### Kinder als Expert*innen ihres Lebens ernst nehmen
Sie plädiert dafür, Kinder als „vernunftbegabte Menschen“ zu begreifen und ihnen Mitbestimmung zu ermöglichen. „Je älter sie sind, desto besser und je jünger sie sind, desto mehr Hilfestellung brauchen sie dabei, aber in erster Linie haben sie dieses radikale grundlegende Anrecht auf Bestimmung über ihr eigenes Leben.“
### Digitale Aufmerksamkeitsökonomie schade Demokratie
Weisband kritisiert die Geschäftsmodelle großer Plattformen, weil sie auf Negativität und Empörung setzen. „Wenn meine Monatsmiete davon abhängt, dass ich möglichst viele Menschen wütend mache, dann werde ich möglichst viele Menschen wütend machen.“
### Öffentliche Räume digital wie analog verteidigen
Sie fordert echte öffentliche digitale Infrastruktur statt „privater Wohnzimmer von Milliardären“. Das Fediverse biete ein Gegenmodell, weil es nicht auf Viralität und Werbeerlöse angewiesen sei.
### Privilegierte Position ermögliche politische Sichtbarkeit
Ihre Sichtbarkeit als weiße, bekannte Frau mit Behinderung nutzt sie bewusst, weil viele Betroffene nicht gehört werden. „Ich kann buchstäblich eine Person durch eine Blutspende mit ME anstecken. … Ich spreche hier von einer halben Million Menschen, die nicht gehört werden.“
### Westliche Ukraine-Politik als Einladung zu weiterem Krieg
Weisband wirft der Bundesregierung vor, zu spät und zu zögerlich zu liefern. „Hätten wir all das getan, was wir jetzt getan haben, hätten wir das alles im Jahr 22 getan, wäre dieser Krieg vorbei.“ Sie erwartet, dass Putin neue Angriffe plant, weil der Westen sich als „handlungsunfähig“ erwiesen habe.
## Einordnung
Das Gespräch zeigt eine klare Haltung: Demokratie funktioniert nur, wenn alle Menschen als gleichwertig anerkannt werden – in Schulen, digital und in der Politik. Weisband nutzt ihre Sichtbarkeit, um Ausgegrenzte sichtbar zu machen, ohne sich in Opferrollen zu begeben. Besonders bemerkenswert ist ihr Appell, Emotionen in der Politik zuzulassen, statt glatter Statements. Die Kritik am deutschen und europäischen Umgang mit dem Ukraine-Krieg ist scharf, aber stets mit konkreten Alternativen verbunden. Der Podcast bietet keine oberflächliche Klage über „die Politik“, sondern eine strukturierte Analyse von Machtverhältnissen und konkrete Vorschläge für demokratische Erneuerung. Die Heinrich-Böll-Stiftung liefert mit dieser Folge kein unterhaltsames, sondern ein notwendiges Format – mit einer Gastgeberin, die zuhört und nachhakt, statt zu inszenieren.