Der Podcast "Armutszeugnis" der Rosa-Luxemburg-Stiftung widmet sich in dieser Folge der Krise der deutschen Automobilindustrie – nicht aus makroökonomischer Perspektive, sondern mit Blick auf die Menschen in den Fabriken. Im Zentrum steht ein längeres Interview mit Rhonda Koch, Referentin beim Betriebsrat im VW-Werk Baunatal und gleichzeitig Soziologin, die dort zur Alltagsrealität von Produktionsarbeit forscht. Koch zeichnet ein Bild hochgradig entfremdeter Arbeit: tayloristisch zersplitelte Abläufe, starre Taktzeiten, Schichtsysteme, die soziales Leben verunmöglichen, und eine „innere Vermarktlichung“, die jede Abteilung zur eigenen Kostenstelle macht. Die Beschäftigten erleben sich als „Verschiebemasse“, wissen oft nicht einmal, welches Autoteil sie montieren, und stehen bei jeder technischen Umstellung neu am Anfang. Die jüngste Tarifauseinandersetzung – VW kündigte alle Tarifverträge, drohte mit 10 % Lohnkürzungen und 30.000 Stellenabbau – hat die DNA „Arbeitsplatzsicherheit“ endgültig durchbrochen; Angst und Wut bestimmen den Alltag. Gleichzeitig beobachtet Koch, wie die betriebliche Transformation zur E-Mobilität die Ohnmacht verstärkt: Termine verschieben sich, Wissen verfällt, ältere Kolleg:innen werden vor die Tür gesetzt. Diese Erfahrungen von Degradierung und Fremdbestimmung sind laut Koch ideale Nährböden für rechte Betriebsratslisten und AfD-Wähler:innen, weil rechte Parteien als einzige scheinbar Konflikte sichtbar machen. Die IG Metall steht vor der Aufgabe, Vertrauen zurückzugewinnen, Mitglieder aktiv einzubinden und Beteiligungsformen zu entwickeln, die wieder Selbstwirksamkeit vermitteln. Die Moderator:innen ergänzen das Interview durch zwei Mitbringsel: ein Interview mit dem Soziologen Klaus Dörre über die Gefahr rechter Mobilisierung in Ost-Betrieben und die Geschichte eines VW-Vertrauensmannes, der in einer Betriebsversammlung für Demokratisierung der Wirtschaft und gegen den Luxus des Porsche-Eigentümers wirbt – exemplarisch für die wachsende Kluft zwischen Beschäftigten und Eigentümerinteressen. ### 1. Arbeitsrealität in der Autoindustrie ist geprägt von entfremdeter, taktgesteuerter Arbeit Koch berichtet, dass die Arbeit am Fließband weiterhin tayloristisch aufgeteilt ist: konzeptionelle und ausführende Tätigkeiten sind strikt getrennt, jede:r Arbeiter:in ist auf eine winzige Teilfunktion reduziert. Viele wissen nicht, welches Auto sie bauen. „Es ist nicht garantiert, dass sie dir sagen können, an welchem Punkt des Autos sie sozusagen gerade etwas entwickeln.“ ### 2. Die jüngste Tarifrunde hat Beschäftigungssicherheit als Kernversprechen von VW zerstört Nachdem VW alle Tarifverträge kündigte und 30.000 Stellen streichen will, herrscht Angst statt der früheren Gewissheit, „dass die Kollegen bei Volkswagen nie in Sorge um ihren Job waren“. Die Angst wird durch betriebliche Maßnahmen wie Transferstellen, Pausenverkürzung und Produktivitätssteigerungen von bis zu 5 % pro Jahr verstärkt. ### 3. Betriebliche Transformation zur E-Mobilität verstärkt Ohnmacht Die Umstellung auf Elektroantriebe erleben die Beschäftigten als passiven Prozess („ich werde transformiert“). Alte Abteilungen sterben, neue Technologien entwerten jahrelang erworbenes Wissen. „Die Kollegen sagen zu mir, sie haben einfach die Sorge, dass sie jetzt … zurück in die Grundschule kommen.“ ### 4. Rechte Kräfte profitieren von resignierenden Arbeitswelten Weil Betroffene ihre Wut im Betrieb nicht adressieren können, wenden sie sich nach außen gegen Klimaschützer:innen oder Politiker:innen. Gleichzeitig erleben rechte Listen in Betriebsratswahlen Zulauf, weil sie scheinbar Konflikte sichtbar machen – ohne eigene Arbeitspolitik anzubieten. ### 5. IG Metall steht vor der Aufgabe, Vertrauen und Mitglieder-Partizipation zurückzugewinnen Viele Beschäftigte kritisieren, dass die Gewerkschaft im Tarifkonflikt zu schnell Kompromisse einging und sie nicht ausreichend einbezog. 90 % Organisationsgrad müssten in aktive Mitgliedschaft übersetzt werden, um sozialökologische Transformation mitzugestalten. ### 6. Gespräch über Produkte lenkt von Arbeitsrealitäten ab Koch plädiert dafür, nicht länger nur über E-Mobilität vs. Verbrenner zu diskutieren, sondern über die Erfahrung von Arbeit: „wir reden zu viel über die Produkte der Transformation und zu wenig eigentlich über die Erfahrung der Transformation“. ## Einordnung Die Sendung ist ein Beispiel dafür, wie linkes Feuilleton funktionieren kann: klar strukturiert, theoretisch informiert und doch lebensnah. Die Moderator:innen verzichten auf wirtschaftsjournalistische Objektivitätsrituale; sie positionieren sich eindeutig auf Seiten der Beschäftigten, ohne diese zu idealisieren. Besonders gelungen ist die Weiterführung des Interviews in der anschließenden Gesprächsrunde: Hier wird die Mikro-Ebene der Werkshalle mit der Makro-Ebene von Eigentumsverhältnissen und politischem Rechtsruck verbunden. Kritisch anzumerken ist, dass die Sendung kaum Gegenstimmen einbindet – Unternehmensseite, IG-Metall-Spitze oder Klimabewegung kommen nicht zu Wort. Das schmälert die journalistische Breite, verstärkt aber den Blick auf eine Perspektive, die in der Öffentlichkeit selten zu hören ist. Insgesamt liefert „Armutszeugnis“ keine einfachen Lösungen, sondern eine differenzierte Analyse, warum ohne Demokratisierung der Arbeitswelt eine sozialökologische Transformation scheitern muss.