Víðsjá: Wagnerfélagið 30 ára og Ísl#nsk þjóðlög í Duus safnahúsi
Ein kulturhistorisch reicher Podcast über Wagner-Aufführungen in Island und die künstlerische Auseinandersetzung mit traditioneller Musik.
Víðsjá
44 min read3338 min audioVíðsjá ist ein isländischer Kulturpodcast, der sich auf aktuelle kulturelle Ereignisse konzentriert. In dieser Folge sprechen die Moderator:innen Halla Harðardóttir und Melkorka Ólafsdóttir mit der langjährigen Vorsitzenden der Wagner-Gesellschaft Selma Guðmundsdóttir über bevorstehende Wagner-Aufführungen in Island. Dabei beleuchten sie sowohl die musikalische Bedeutung Wagners als auch dessen problematisches Erbe, insbesondere die Verbindungen zur nationalsozialistischen Ideologie. Zudem stellen der Komponist Atli Ingólfsson und die Sängerin Hanna Dóra Sturludóttir ihr Theaterprojekt über isländische Volkslieder vor, das traditionelle Melodien in ein zeitgenössisches Bühnenformat überführt.
### Wagners komplexes Erbe in Island
Selma Guðmundsdóttir erklärt, dass Richard Wagner stark von isländischen Sagas beeinflusst wurde – insbesondere vom Nibelungenring, der auf nordischen Quellen basiert. Sie betont, dass vier der fünf wichtigsten Bücher, die Wagner selbst für seine Arbeit zitierte, isländische Quellen wie die Snorra-Edda oder die Völsunga-Saga seien. Diese Verbindung sei in Island lange Zeit kaum wahrgenommen worden.
### Die Gründung der Wagner-Gesellschaft nach der Listahátíð 1995
Die Wagner-Gesellschaft Islands wurde 1995 gegründet – ausgelöst durch eine spektakuläre Inszenierung des Nibelungenrings auf der Listahátíð, bei der das Werk von 16 auf etwa vier Stunden gekürzt wurde. Diese Aufführung wurde von Wolfgang Wagner unterstützt und zog internationales Interesse auf sich. Die Gesellschaft fördert seitdem junge Musiker:innen und organisiert jährliche Reisen zur Bayreuther Festspiele.
### Die Bayreuther Festspiele als Pilgerort
Selma beschreibt die Bayreuther Festspiele als einzigartiges Erlebnis mit fast religiösem Charakter. Die Besucher:innen erleben dort nicht nur neue Inszenierungen, sondern auch eine besondere Atmosphäre – etwa durch das Verstecken des Orchesters oder das Verdunkeln des Saals, was Wagner selbst eingeführt habe, um die Konzentration auf das Bühengeschehen zu erhöhen.
### Die moralische Belastung: Wagner und der Antisemitismus
Die Moderator:innen sprechen offen Wagners antisemitische Schriften an. Selma räumt ein, dass dies eine „komplexe und schwierige Geschichte“ sei. Sie argumentiert, dass Wagner zwar antisemitische Ansichten vertreten habe, diese aber nicht in seinen Opern umgesetzt hätten. Sie betont auch, dass Wagner selbst jüdische Freunde und Mitarbeiter hatte und dass seine Nachkommen – insbesondere Katharina Wagner – sich heute aktiv mit dieser Geschichte auseinandersetzen würden.
### Theater über Volkslieder: Atli Ingólfssons skandinavische Vision
Atli Ingólfsson präsentiert ein Theaterprojekt, das traditionelle isländische Volkslieder in ein zeitgenössisches Bühnenformat überführt. Er spricht von „Bildern über Volkslieder“, da er die Melodien nicht einfach arrangiere, sondern sie in einen neuen künstlerischen Kontext stelle. Die Sängerin Hanna Dóra Sturludóttir erzählt, wie sie in dem Stück die Rolle der „Dóra Winkler“ übernimmt – eine Figur, die sie selbst mit einem Hauch deutscher Identität verbindet.
### Die isländische Identität auf der Bühne
In dem Theaterstück wird die Frage thematisiert, was „isländisch“ bedeutet – etwa durch Bühnenbilder mit Wollsocken oder durch die Verwendung traditioneller Kleidung. Dabei wird auch die gemeinsame kulturelle Erinnerung der Isländer:innen thematisiert – etwa durch die Integration einer Geistergeschichte aus der Sammlung von Jón Árnason, die nur über Geräusche erzählt wird.
## Einordnung
Diese Folge von Víðsjá bietet eine kulturhistorisch interessante Mischung aus musikalischem Sachverstand und persönlicher Leidenschaft. Die Moderator:innen führen die Gespräche offen und mit klarer Haltung – besonders bei der Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus. Dabei gelingt es ihnen, die Spannung zwischen künstlerischem Erbe und moralischer Belastung differenziert darzustellen, ohne zu verharmlosen. Besonders bemerkenswert ist, wie selbstverständlich isländische Perspektiven in die europäische Kulturgeschichte eingebracht werden – etwa durch die Betonung der literarischen Quellen für Wagners Werk. Die Beiträge von Atli und Hanna Dóra zeigen zudem, wie lebendig die Auseinandersetzung mit traditioneller Musik sein kann, wenn sie künstlerisch neu verhandelt wird. Die Sendung ist ein Beispiel dafür, wie kulturelle Identität durch künstlerische Aneignung neu erzählt werden kann – ohne dabei in folkloristische Stereotype zu verfallen.
Hörwarnung: Keine – diese Folge bietet eine kluge, differenzierte Auseinandersetzung mit komplexen kulturellen Themen.