Carl-Auer Sounds of Science: # 234 Anika Roßmann | Scham in der Schule
Die Systemische Coachin zeigt in „Rote Wangen, gesenkter Blick“, wie Scham in Schulen entsteht und was Fachkräfte tun können, um Kinder und Erwachsene sensibel zu begleiten.
Carl-Auer Sounds of Science
32 min read1410 min audioIm Gespräch mit Moderator Stephan Marks erläutert die Erziehungswissenschaftlerin und Schulsozialarbeiterin Anika Roßmann, warum Scham in Schulen ein systemisches und zugleich hoch individuelles Phänomen ist. Sie plädiert dafür, Scham weder zu tabuisieren noch zu pathologisieren, sondern als regulatives Gefühl zu verstehen, das in „Schamgeschichten“ sichtbar wird. Roßmann stellt ihr Buch „Rote Wangen, gesenkter Blick“ vor, das mit konkreten Beispielen zeigt, wie Beschämung zwischen Lehrkräften, Schüler:innen und Eltern entsteht und wie pädagogische Fachkräfte sensibel intervenieren können. Schwerpunkte sind der systemische Blick auf Familien- und Klassenkontexte, die Vermeidung von Beschämung durch achtsame Kommunikation sowie die Notwendigkeit, in der Aus- und Fortbildung von Lehr- und Sozialpersonal regelmäßig Raum für Reflexion über eigene Schamerfahrungen zu schaffen. Die Episode endet mit dem Appell, Fehlerfreundlichkeit zu kultivieren und Betroffene zu befähigen, sich bei Bedarf externe Hilfe zu holen, ohne sich zu schämen.
### Schulen als „Schamgenerierungsmaschinen“
Roßmann beschreibt Schulen als Institutionen, in denen Vergleiche, Leistungsbewertungen und Gruppendynamiken regelmäßig Scham auslösen. Sowohl Schüler:innen als auch Lehrkräfte erleben sich als „Fehlerhafte“, was das System durch achtsame Pädagogik abfedern könnte.
### Systemischer Blick statt Einzelfallgucken
Statt isoliert zu fragen „Was hat das Kind?“ fordert Roßmann, Elternhaus, Klassenklima, Kollegium und Lehrplanfetisch gleich mit in den Blick zu nehmen. Nur so lasse sich verstehen, warum dieselbe Situation unterschiedliche Menschen unterschiedlich beschämen kann.
### Scham als Entwicklungschance nutzen
Scham wird nicht als Gefühl zu vermeiden, sondern als „sozialer Klebstoff“ gedeutet, der Regelbewusstsein und Empathie stärkt. Entscheidend sei, das Gefühl konstruktiv zu begleiten, etwa durch Rituale des Wiedergutmachens statt öffentlichen Bloßstellens.
### Professionalisierung über Selbstreflexion
Die Autorin berichtet, dass Fortbildungsteilnehmende ihre Schamseminare zunächst belächeln, danach aber um mehr Zeit bitten, weil sie eigene Schulgeschichten wiedererkennen. Sie plädiert für verpflichtende Scham-Module in Lehrerausbildung und Schulsozialarbeit.
### Praxisbeispiele und Nachschlagewerk
Jede der 15 Geschichten im Buch endet mit einer „Infobox“, die Adressen von Beratungsstellen und weiterführende Links zu Themen wie Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Zwangsheirat bietet. So solle niemand den Anspruch verspüren, „Hero“ sein und alle Probleme alleine lösen zu müssen.
## Einordnung
Die Sendung folgt dem Bildungsauftrag des Carl-Auer-Verlags: Sie will Praktiker:innen Werkzeuge an die Hand geben, ohne zu belehren. Marks führt durchs Gespräch, ohne Expertenhierarchien aufzubauen – typisch für ein Fortbildungs- statt Journalismus-Format. Roßmann gelingt es, ein hochsensibles Thema schlüssig und ohne akademisches Fachchinesisch aufzubereiten. Besonders wirksam: Sie benennt die eigene Scham, über Scham zu sprechen, und modelliert damit die gewünschte Offenheit. Kritisch bleibt, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Leistungsdruck, Ressourcenknappheit) nur angerissen werden; die Lösung liegt für sie vor allem in der Haltung der Akteure. Rechte oder pseudowissenschaftliche Positionen sind nicht erkennbar, vielmehr steht eine klare Haltung gegen Ausgrenzung und für Vielfalt im Zentrum. Die Folge lohnt sich für alle, die in oder mit Schulen arbeiten und sich fragen, wie Umgangsformen gelingen können, die Menschen nicht beschämen.