Stahl aber herzlich – Der Psychotherapie-Podcast mit Stefanie Stahl: Bindungsangst verstehen – welche Rolle spielt meine Herkunft?
Eine einfühlsame Therapiesitzung über Bindungsangst zwischen zwei Kulturen.
Stahl aber herzlich – Der Psychotherapie-Podcast mit Stefanie Stahl
14 min read3907 min audioIm Podcast "Stahl aber herzlich" spricht Psychologin Stefanie Stahl mit Ali über dessen Bindungsangst, die sich aus der Verbindung früher Kindheitsprägungen und familiärer Erwartungen aus Einwanderungskontext speist. Ali berichtet, dass seine Familie vor über 30 Jahren aus Afghanistan flüchtete und er zwischen zwei Kulturen aufwuchs. Er schildert, dass das erweiterte Familiennetz stark urteilt und seine Mutter sich nie abgrenzen konnte, was bei ihm Angst vor Ablehnung erzeugte. Als Kernmuster identifiziert er das Gefühl "nicht genug zu sein" und Angst, ersetzt zu werden. Stahl ordnet dies als typisches Einwanderungskind-Thema ein, wobei kultureller Druck die ohnehin durch frühe Prägung vorhandene Bindungsangst verstärke. Ali erzählt von einer jüngsten Kennenlernphase mit einer deutschen Frau, in der bei ihm ein "mulmiges Gefühl" auftrat, als sie über ihre Jugend in der Disko berichtete. Stahl erkennt, dass Ali sich zwischen Autonomiebestreben und Fürsorgepflicht für seine Mutter hin- und hergerissen fühlt. Gemeinsam üben sie eine kurze Selbstberuhigungsstrategie, um Ängste im Beziehungsalltag abzufedern.
### Trennungsängste und Schuldgefühle prägen Alis Beziehungsmuster
Ali berichtet, dass er sich in Beziehungen schnell überfordert fühle und deshalb oft selbst beende: "Ich bin derjenige, der das dann beendet und sagt: Feierabend." Hinter dieser Fluchtbewegung steckt laut seiner Analyse eine tiefe Angst vor Ablehnung und ein Gefühl der Unsichtbarkeit. Diese Muster leite er aus Familienerzählungen ab: "Ich habe in der Kindheit oft das Gefühl gehabt, ich habe Angst, vergessen zu werden." Die Großfamilie habe stark gewertet, weshalb er stets darauf bedacht sei, keine Schande auszulösen.
### Die Flucht-Historie der Eltern erzeugt lang anhaltende Schuld- und Abhängigkeitsdynamik
Ali schildert, dass seine Familie seiner Tante "in der Schuld" stehe, weil sie beim Ausreisen aus Afghanistan geholfen habe. Seitdem lasse diese Tante "in 30 plus Jahren viel Schaden" anrichten, indem sie die Familie ausgrenze. Seine Mutter habe sich nie abgegrenzt, weshalb er gelernt habe, negative Gefühle herunterzuschlucken. Dieses Unterwürfigkeitsmuster übertrage sich nun auf seine Beziehungen: "Ich habe wirklich Angst: Okay, was macht meine Mama?"
### Kulturelle Normen verstärken die individuelle Bindungsangst
Stahl erkennt, dass Ali zwischen zwei Erwartungssystemen stehe: In der deutschen Mehrheitsgesellschaft gelte Selbstentfaltung als Ideal, während die afghanische Herkunftsfamilie ein kollektives Wertesystem repräsentiere. Ali beschreibt dies als Spagat: "In meiner Heimatstadt bin ich der Sohn von, eine Stunde weiter bin ich einfach Ali." Diese doppelte Identität mache es ihm schwer, sich in Beziehungen frei zu entwickeln, weil stets die Frage mitscheine, ob eine Partnerin der Familie "passen" würde.
### Therapeutin und Klient erarbeiten erste Gegenstrategien
Am Ende der Stunde zeigt Stahl Ali eine kurze Visualisierungsübung, bei der er sich eine sichere Begegnung mit seiner Mutter vorstellt, um innere Spannungen abzubauen. Sie ermutigt ihn, künftig zwischen realen und eingebildeten Gefahren zu unterscheiden: "Es geht darum, zu spüren, dass du dich selbst beruhigen kannst." Ali zeigt sich optimistisch, das Muster mit seiner Therapeutin und den neuen Impulsen weiter aufzuarbeiten.
## Einordnung
Die Folge bietet eine einfühlsame, therapeutisch strukturierte Gesprächsführung. Stahl gelingt es, Ali klar zuzuhören, seine Schilderungen zu spiegeln und ohne Fremdurteil Perspektiven zu eröffnen. Besonders wertvoll ist, dass sie Migrationserfahrungen als möglichen Verstärker von Bindungsangst ernst nimmt, ohne kulturelle Stereotype zu bedienen. Gleichzeitig bleibt sie bei ihrer psychologischen Expertise, indem sie frühe Kindheitsmuster und Selbstregulationsstrategien in den Fokus rückt. Der Podcast transportiert so das heilsame Narrativ, dass sich belastende Muster erkennen und verändern lassen. Kritisch anzumerken ist, dass keine anderen Fachperspektiven – etwa sozialpädagogische oder interkulturelle Beratung – einfließen; die Gesprächszeit bleibt auf Einzeltherapie beschränkt. Zudem wirbt die Folge für kostenpflichtige Online-Kurse der Moderatorin, was den professionellen Rahmen leicht aushebelt.