Weltspiegel Podcast: Live | 10 Jahre Sommer der Migration

Emotionale Rückschau auf die Flüchtlingskrise 2015 mit persönlichen Zeugnissen und selbstkritischer Berichterstattung.

Weltspiegel Podcast
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Der Weltspiegel-Podcast blickt zehn Jahre nach Merkels "Wir schaffen das!" zurück. Natalie Amiri führt im Münchner Live-Studio drei Gespräche: mit dem syrischen Pianisten Aeham Ahmad, der seine Flucht und Familienzusammenführung schildert; mit der ehemaligen ARD-Studioleiterin Susanne Glass, die vom 13-jährigen Nihad in Budapest erzählt, der später mit Schleppern nach Finnland floh; und mit Korrespondentin Anna Tillack, die europäisches Versagen und rechte Stimmungsmache in Osteuropa analysiert. Alle drei sprechen von Überforderung, Traumata und fehlender europäischer Solidarität 2015. ### 1. Familienzusammenführung als Glücksfall Aeham berichtet, seine Familie sei nach nur einem Jahr nachgekommen – eine Ausnahme, denn "viele warten sieben oder acht Jahre". Er habe 5000 Euro pro Person für die Flucht bezahlt und sei "zweimal im Geheimdienst" gewesen. ### 2. Europas bewusstes Hineinlaufen in die Krise Anna Tillack konstatiert, Experten hätten schon im Frühsommer 2015 gewarnt, doch "man ist sehenden Auges in diese Katastrophe gelaufen", während gleichzeitig Hilfen für Flüchtlingslager im Nahen Osten um 30 % gekürzt wurden. ### 3. Behördenchaos und politische Folgen Susanne Glass beschreibt ein "totalen Kontrollverlust" – überlastete Ämter, inkompatible IT-Systeme und Gerichte, die zu 80 % mit Flüchtlingsklagen überlastet seien. Dies habe zu massiver Frustration und politischem Stimmungsumschwung beigetragen. ### 4. Gefährliche Rückkehrillusionen Aeham reiste 2025 mit deutschem Pass nach Syrien und fand "Elend" vor – ethnische Säuberungen und wachsende Unsicherheit. Dennoch plant er, eine Musikschule im zerstörten Yarmouk-Camp zu bauen: "Das ist maybe Traum und crazy". ### 5. Medienverzerrung und Hass Aeham kritisiert: "85 % der Syrer und Afghanen haben es geschafft, aber wenn zwei Leute mit Messer stechen, kommt das direkt und ist immer so laut". Die Medien würden negative Nachrichten überproportional verbreiten. ## Einordnung Die Live-Aufzeichnung gelingt als emotionale Zeitreise, die persönliche Schicksale mit systemischen Versäumnissen verknüpft. Die ARD-Korrespondent:innen reflektieren selbstkritisch ihr Versagen, Europa sei "sehenden Auges" in die Krise gelaufen – eine selten ehrliche Selbstbeschäftigung im Öffentlich-Rechtlichen. Besonders bemerkenswert ist, wie offen über rechte Stimmungsmache in Osteuropa und mediale Verzerrungen gesprochen wird, ohne dabei in billige Schuldzuweisungen zu verfallen. Die persönlichen Geschichten von Aeham und Nihad verleihen den abstrakten Zahlen ein Gesicht und machen deutlich, dass hinter jeder Statistik ein Mensch mit Traumata und Hoffnungen steht. Die Sendung vermeidet es gekonnt, die komplexe Thematik zu vereinfachen oder in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen – stattdessen wird eine differenzierte Auseinandersetzung mit einem der prägendsten Ereignisse der deutschen Nachkriegsgeschichte geboten. Hörempfehlung: Unbedingt anhören – eine bewegende und selbstkritische Retrospektive, die ohne erhobenen Zeigefinger auskommt und gleichzeitig politische Versäumnisse benennt.