Radiowissen: Trauerkultur - Der Tod und die Digitalisierung
Radiowissen zeigt, wie WhatsApp-Nachlässe, VR-Gedenkfeiern und KI-Avatare unseren Umgang mit Tod und Trauer revolutionieren – zwischen Trost, Datenkrise und kommerziellen Fallstricken.
Radiowissen
1379 min audioDer Bayern-2-Podcast „Radiowissen“ widmet sich in der 45-minütigen Folge „Tod und Sterben im digitalen Zeitalter“ (Autor: Konstantin Schönfelder, BR 2024) der Frage, wie Digitalisierung und KI unseren Umgang mit Tod, Trauer und Erinnerung verändern. Die Redaktion lässt drei Expert:innen zu Wort: die Bestatterin und Digital-Pionierin Lilli Berger, den Soziologen und Thanatologen Matthias Meitzler sowie den Digital-Nachlass-Forscher Lorenz Witmeier.
### 1. Der digitale Nachlass wird zur zentralen biografischen Quelle
Witmeier berichtet, dass Hinterbliebene in WhatsApp-Chats, Instagram-Posts oder Gesuchverläufen nicht nur „Erinnerungen, sondern auch Erklärungen“ fänden. In einer Studie habe eine Mutter anhand von Screenshots ihrer toten Tochter erfahren, „dass der Suizid keine Affekthandlung war“, sondern Wochen vorher geplant wurde. Solche Daten ersetzen klassische Briefe und Tagebücher.
### 2. Die Wünsche Verstorbener und die Bedürfnisse der Trauernden kollidieren
Facebook löschte laut Witmeier den Account einer jungen Frau, weil diese vorab „nach meinem Tod löschen“ eingestellt hatte; die Mutter bekam keine privaten Nachrichten und verlor damit „die Möglichkeit, das zu verstehen“. Die Folge zeigt, dass sich Datenschutz-Voreinstellungen und postmortaler Erklärungsdrang widersprechen können.
### 3. Virtuelle Gedenkräume entstehen als neue Trauerorte
Lilli Berger gründete mit „Vive“ eine Plattform für 3-D-Gedenkfeiern, in denen Nutzer:innen „egal, wo man gerade auf der Welt ist“ gemeinsam um einen virtuellen Baum stehen und Erinnerungen austauschen. Das Gehirn speichere diese Gespräche räumlich, wodurch „Erinnerungen wieder lebendig“ würden – eine Art „digitales Familiengrab“ für die Generation Smartphone.
### 4. KI-Avatare von Verstorbenen werben schon bald um Abo-Gebühren
Matthias Meitzler warnt, dass kommerzielle Anbieter in den USA Avatare programmieren, die Hinterbliebenen auffordern könnten: „Bitte verlängere doch dieses Abo, lass mich kein zweites Mal sterben.“ Die Trennung zwischen Trost und Geschäftsmodell werde brüchig; Produktplatzierungen („Kaufe dieses T-Shirt, hier der Link“) seien denkbar.
### 5. Die Frage „Welche Version von mir soll digital weiterleben?“ bleibt unbeantwortet
Meitzler betont, dass Persönlichkeiten sich im Laufs des Lebens wandeln. Ohne klare Vorgaben entscheiden entweder Anbieter oder Angehörige, ob der Avatar die 20-jährige, die 50-jährige oder eine Mischung der Daten repräsentiert – ein Dilemma, das rechtliche und moralische Grauzonen schafft.
## Einordnung
Die Sendung arbeitet professionell auf journalistischem Niveau: klare Struktur, ordentliche Recherche, viele konkrete Beispiele und ein ausgewogenes Verhältnis von Faszination und Warnung. Besonders gelungen ist die Personenbindung: Jede Expertin/jeder Experte steht für eine Facette des digitalen Todes – praktisch, soziologisch, technologisch. Kritisch bleibt, dass die Redaktion fast ausschließlich Befürworter:innen oder neutrale Beobachter:innen zu Wort kommen lässt; skeptische Stimmen (Datenschützer:innen, Ethiker:innen, Gerichtsverfahren) fehlen. So entsteht der Eindruck, die Entwicklung sei unumkehrbar und lediglich „noch“ an Gestaltungsoffen – ein affirmativer Blick, der Machtverhältnisse zwischen Tech-Konzernen und vulnerablen Trauernden kaum hinterfragt. Die Folge bleibt dennoch ein wertvoller Einstieg in ein drängendes Zukunftsthema und zeigt, dass auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk digitale Transformationsprozesse kritisch begleiten kann, ohne in Hysterie zu verfallen.