Der Investigativ-Podcast "Hateland" der ARD begleitet Reporter:innen auf Spurensuche zum rechtsterroristischen "Gruppe Reuß"-Netzwerk. In Folge 6 („Schüsse") rekonstruieren Helene Fröhmcke, Antonia Märzhäuser und Martin Kaul, wie die Behörden 2022/23 gegen die Szene vorgingen und weshalb ein Einsatz in Reutlingen in eine Schießerei mündete. Durch neue Zeugenaussagen, verdeckte Beobachtungsprotokolle und ein selbst gefilmdes Handy-Video zeichnen sie detailliert nach, dass Mitglieder offenbar Kasernen auskundschafteten, sich gegenseitig Aufruf- und Verschwiegenheitsklauseln unterzeichneten und sich mit großen Waffenarsenalen versorgten. Die Episode wirft zugleich Fragen zur Transparenz und Nachvollziehbarkeit des staatlichen Vorgehens auf – etwa, warum ein ehemaliger Offizier trotz Dienstverbot ungehindert Militärgelände betreten konnte. Parallel sprechen die Reporter mit Anwohner:innen, MAD-Vize Thorsten Ackermann sowie dem Verteidiger des mutmaßlichen Kopfes Prinz Reuß, Roman von Alvensleben, der das Prozedere als „politisch kontraproduktiv“ kritisiert.### 1. Die Gruppe Reuß sollte nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft Kasernen als künftige Stützpunkte inspizieren Die Recherchen belegen, dass Rüdiger von Pescatore und Andreas Meyer im Herbst 2022 mehrere Bundeswehrstandorte ansteuerten, „um verschiedene Kasernen auf ihre Tauglichkeit zu prüfen, als Stützpunkt für ihren eigenen Militärstab“ (06:13). Dabei gelangten sie offenbar ohne Ausweiskontrolle auf das Gelände.### 2. Die Sicherheitsbehörden beobachteten die Szene monatelog, ehe sie 2022 mit 3 000 Beamten:innen zuschlugen Die Ermittler:innen nutzten Observationsteams in Zivil, tauschten Autonummernschilder und wechselten Beschatter:innen, „damit es nicht auffällt“ (05:10). Der Zugriff zählt zu den größeren Polizeiaktionen der vergangenen Jahre, löst aber auch Spott aus, weil bis dahin kein sichtbarer Terrorakt erfolgt war.### 3. Die Eskalation in Reutlingen markiert den ersten dokumentierten Schusswechsel: Ein Polizist wurde verletzt Bei einer Nachforschung im März 2023 griff Markus Laikam – laut Anklage Waffen- und Heimatschutz-Verantwortlicher der Gruppe – die Spezialeinheit mit einer Colt AR-15 an. Mehrere Kugeln durchschlugen eine Wohnungstür, ein Beamter wurde am Arm getroffen. Das von einem Nachbaren gefilmte Material zeigt den Moment der Schüsse und die anschließende Festnahme des nackten Tatverdächtigen.### 4. Waffenarsenal und Untergrund-Strukturen: In Laikams Wohnung fanden die Ermittler:innen über 20 Schusswaffen und Munition für „Terroranschläge“ Die Räumlichkeiten wirkten wie ein improvisiertes Depot: „Ein Waffenschrank voller Waffen und Munition, auf dem Sofa einen Revolver, unter seinem Kopfkissen eine Glock-Pistole“ (22:20). Dazu lagen militärische Ausrüstung, Nachtsichtgeräte und das Buch „Terroranschläge unter der Lupe“.### 5. Verteidiger:innen kritisieren die Öffentlichkeitswirkung als „Wähler-in-die-Reihen-spielend“ Roman von Alvensleben moniert, mit solchen Großeinsätzen würden die Behörden vermeintlich harmlose Gruppen radikalisieren: „Wenn das Strömungen sind, die wir nicht wollen, dann können wir sie vielleicht eher bekämpfen, indem wir uns mit ihnen auseinandersetzen“ (30:32).### 6. Fast alle Angeklagten verweigern bislang eigene Stellungnahmen an Medien Trotz persönlicher Briefe der Reporter antworten weder Pescatore, Meyer noch Laikam auf Fragen. Lediglich Prinz Reuß sendet eine maschinengeschriebene Mitteilung, in der er sich als „nicht auf dem Boden des Grundgesetzes“ positioniert, ohne dies konkret zu erläutern.## Einordnung Die Episode demonstriert, wie akribisch Recherchejournalismus funktioniert: durch das Zusammenführen von Indizien, Zeugenaussagen und originalen Tonbändern entsteht ein erschütterndes Bild einer militanten Szene, die sich in der Realität zu bewegen glaubt. Besonders bemerkenswert ist die dokumentierte Sicherheitslücke – der unbehelligte Zugang zu Kasernen –, die das Verteidigungsministerium mit Verweis auf „Hypothetisches“ nicht erklären kann. Gleichzeitig offenbart der Beitrag das Dilemma des Staates: Früher einschreiten und als übertrieben gelten, oder abwarten und mögliche Gewalt riskieren. Die Journalist:innen gelingt es dabei, ohne Sensationslust und ohne rechtliche Bewertung die Faktenlage darzulegen. Kritisch bleibt jedoch, dass die Verteidiger:innen kaum Raum erhalten, ihre Sicht zu entfalten; dadurch könnte der Eindruck einer einseitigen Schuldzuweisung entstehen. In der Gesamtbilanz ist „Schüsse“ ein aufwühlender Beleg dafür, wie Verschwörungsglaube und militante Strukturen ineinander übergehen können – und wie wichtig lückenlose Aufklärung ist, bevor aus Gedanken Taten werden.