Hintergrund: EU-Beitritt - Warum die Reformen in der Ukraine stocken
Der Podcast zeigt, wie die Ukraine zwischen Kriegsnotwendigkeit und Rechtsstaatlichkeit balanciert.
Hintergrund
11 min read1139 min audioDer Deutschlandfunk-Podcast "Hintergrund" mit Sabine Adler beleuchtet die prekäre Lage der Korruptionsbekämpfung in der Ukraine. Die Redaktion spricht mit der Aktivistin Alena Haluschka (Antech), dem Juristen Michalo Schannakov (Dejure-Stiftung), der Politikerin Oxana Prodan und dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko. Zentrales Thema ist ein im Parlament beschlossenes Gesetz, das die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden Nabu und Sapo sowie des Antikorruptionsgerichts beschnitten hätte. Nach landesweiten Protesten und westlichem Druck zog die Regierung den Entwurf zurück. Die Interviewpartner werfen Präsident Selenskyj vor, unter dem Deckmantel der Korruptionsbekämpfung politische Gegner wie Klitschko zu schwächen und die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben. Gleichzeitig erkennen sie an, dass angesichts des Krieges eine Alternative zum Präsidenten derzeit nicht existiert.
### 1. Massenproteste zwangen die Regierung zur Kehrtwende
Hunderttausende gingen Anfang August auf die Straße, weil das Parlament in einer Nacht- und Nebelaktion ein Gesetz verabschiedet hatte, das die unabhängigen Antikorruptionsbehörden an den kurzen Leinen des Generalstaatsanwalts hätte legen sollen. Alena Haluschka betont: "Das waren keine Anti-Selenskyj Proteste... sondern gegen ein schlechtes Gesetz." Acht Tage später wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das die Befugnisse von Nabu und Sapo wiederherstellte.
### 2. Betroffene Behörden hatten zu mächtige Beamte ins Visier genommen
Die unabhängigen Ermittler:innen hatten laut Recherche von Sabine Adler "einigen Spitzenbeamten im Umfeld von Präsident Selenskyj zu nahe" gekommen. So steht Ex-Vizepremierminister Alexej Tschernischow "im Verdacht, sich beim Bau von Luxusvillen bereichert zu haben". Auch Verteidigungsminister Rustem Umerow und der Chef des Antimonopolkomitees, Pawlo Kirilenko, sollen bei der Vermögensdeklaration gepatzt haben.
### 3. Kritiker sehen Machtmissbrauch im Namen der Korruptionsbekämpfung
Vitali Klitschko berichtet von 1600 kriminellen Verfahren gegen seine Stadtverwaltung, die nicht von den unabhängigen Behörden, sondern vom "alten staatlichen Ermittlungsbüro" eingeleitet wurden. Er wirft Selenskyj vor, "alle Instrumente" zu nutzen, "um politische Gegner zu kompromittieren". Oxana Prodan attestiert der Regierung Arroganz: "Diese Regierung benimmt sich sehr arrogant... die Mehrheit der Gesellschaft toleriert die Regierung nur noch wegen des Krieges."
### 4. Westliche Partner übten zu lange zu wenig Druck aus
Michalo Schannakov kritisiert, dass die EU "zu sehr auf Zuckerbrot statt auf Peitsche" gesetzt habe. Die Rückhaltung der EU sei "kontraproduktiv" gewesen, weil sie in Kiew als Freifahrtschein interpretiert wurde. Erst nach dem Ende des "un ausgesprochenen Moratoriums" auf Kritik habe die Ukraine die notwendigen Rückkopplungen erhalten.
### 5. Rechtsstaatlichkeit bleibt Voraussetzung für EU-Beitritt
Die Ukraine wird laut Schannakov "vor allem deswegen so massiv unterstützt, weil sie... zum demokratischen Teil Europas gehören möchte". Eine Sonderbehandlung wegen des Krieges schlossen die EU-Staaten aus. Ohne Reformen kommt der EU-Beitritt nicht voran – was die Spannung zwischen Kriegsnotwendigkeit und Rechtsstaatlichkeit weiter verschärfen dürfte.
## Einordnung
Sabine Adler präsentiert eine fundierte, vielstimmige Analyse, die sich nicht auf einfache Schwarz-Weiß-Muster verlässt. Die Journalistin lässt sowohl Regierungskritiker:innen als auch die zwiespältige Loyalität der Gesellschaft gegenüber Selenskyj zu Wort kommen. Besonders gelungen ist die Einbettung der Korruptionsdebatte in den größeren Kontext von Krieg, EU-Beitritt und demokratischem Reformdruck. Die Sendung vermeidet es, die komplexen Machtverhältnisse in der Ukraine zu verharmlosen, zeigt aber auch, dass es angesichts der russischen Invasion keine einfachen Alternativen gibt. Kritisch anzumerken ist, dass die westliche Zurückhaltung in der Kritik an Rechtsstaatsdefiziten – insbesondere aus Berlin und Brüssel – nur am Rande erwähnt wird, aber nicht weiter hinterfragt wird. Insgesamt liefert der Beitrag eine differenzierte Perspektive auf das Spannungsfeld zwischen Kriegsnotwendigkeit und demokratischer Kontrolle.