Der Mittelweg 36 Podcast diskutiert mit Soziologin Nicole Holzhauser die Entwicklung soziologischer Theorie von den 1990ern bis heute. Sie schildert, wie Studierende früher von Klassikern wie Foucault und Bourdieu fasziniert waren, während heute Pragmatismus und Karrieredenken dominieren. Theorie wird nicht mehr als Selbstzweck, sondern nach Nutzen für Klausuren und Jobs bewertet – außer bei Themen wie Gender, Queer oder postkolonialer Kritik, die stark mit Identität verknüpft sind. Holzhauser beklagt, dass große theoretische Debatten (etwa Habermas vs. Luhmann) verschwunden seien und Methodenfragen die Theorie verdrängten. Als spannenden „Turn“ sehen alle Beteiligte den „posthumanen“ Impuls, der den Menschen aus dem Zentrum rückt (Haraway, Latour). Erfolgreiche Theoriebücher wie Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ funktionierten, weil sie Alltagserfahrungen benennbar machen. ### 1. Theorie als Identifikationsangebot gestern und heute Holzhauser erzählt, dass sie im Studium von Hochschilds „The Managed Heart“ begeistert war, weil klassische Theorie plötzlich „unglaublich modern und lebensnah“ wirkte. Heute erlebt sie Studierende, die zunächst skeptisch fragen: „Was nützt mir das?“ ### 2. Feministische und dekoniale Ansätze befeuern Debatten Während ökonomische Nutzenkalküle vorherrschen, führt bei Themen wie Gender, Queer oder postkolonialer Kritik „Identifikation“ zu lebhaften, emotionalen Auseinandersetzungen – allerdings oft losgelöst vom Theoriekern. ### 3. Große theoretische Lagerkämpfe gelten als passé Die klaren Kontroversen (Habermas vs. Luhmann) werden vermisst; stattdessen dominiere „Streit in kleinen, spezialisierten Feldern“ und vor allem Methodenfragen („Mixed-Methods-Streit“). ### 4. Karrierestrukturen verhindern theoretische Konversion Weil Anerkennung über Professorenetagen, Peer-Review und Projekte läuft, würden Wissenschaftler:innen kaum noch theoretische 180-Grad-Wenden wagen – es gebe „politische Renegaten, aber kaum theoretische Konvertiten“. ### 5. Posthumaner Turn fordert Menschen-Zentrum heraus Als gegenwärtig zentraler „Turn“ wird die posthumane Soziologie gesehen: „Die Kränkung, dass wir als Menschen nicht im Zentrum stehen“, treibe neue Theorien (Haraway, Latour) und verlange neue Grenzziehungen zwischen Mensch, Tier und Maschine. ### 6. Erfolgreiche Theorie erzählt Alltagserfahrung Bücher wie Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ werden nicht wegen neuer Begriffe rezipiert, sondern weil Leser:innen darin ihre eigene Lebenssituation wiedererkennen – ein Beispiel für „publizistisch erfolgreiche Zeitdiagnostik“. ## Einordnung Das Gespräch wirkt wie eine nostalgische Rückschau, die Gegenwart durch die Brille der eigenen Studienerfahrung filtert: Früher sei Theorie leidenschaftlich und kontrovers diskutiert worden, heute herrsche ökonomischer Pragmatismus. Diese Erzählung verstärkt eine Verfallsgeschichte, ohne empirisch zu belegen, ob tatsächlich weniger oder nur anders gestritten wird. Die Kritik an „Methoden-Fetisch“ und „Klausurorientierung“ bleibt vage; konkrete Lehr- oder Publikationsstrategien, die Theorie wieder attraktiver machen könnten, werden kaum ausgelotet. Positiv ist die Selbstreflexion, dass Wissenschaftler:innen ihre Theoriewahl selten bewusst treffen, sondern durch soziale Anreize gelenkt werden – ein Einblick, der aber nicht weiter vertieft wird. Der Podcast bietet keine überraschenden Impulse für den, die aktuelle Theoriedebatte bereits verfolgt; er bestätigt vielmehr bekannte Diagnosen und beließt sie im akademischen Salon.