FALTER Radio: Putin, Trump, Xi und ihre Träume vom ewigen Leben - #1498
Politikwissenschaftler Ivan Krastev erklärt, wie Drohnen, Demografie und Hybris die globale Machtverschiebung antreiben.
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47 min read3047 min audioIm Gespräch mit Falter-Chefredakteur Raimund Löw analysiert der bulgarisch-österreichische Politikwissenschaftler Ivan Krastev die geopolitischen Umbrüche der Gegenwart. Er erklärt, wie Drohnen den Krieg in der Ukraine revolutionieren, warum Putin die Widerstandskraft der Ukrainer:innen unterschätzt und wie sich die Machtverhältnisse zwischen den Weltmächten verschieben. Dabei entlarvt er die Selbstüberschätzung westlicher Politik:innen, die glauben, „Putin zu kennen“, und zeigt auf, wie Demografie und Technologie die Zukunft der internationalen Politik bestimmen.
### 1. Drohnen machen den Krieg zur DIY-Affäre
Die Ukraine operiere mit rund 200 Drohnenfirmen, produziert hochtechnologische Waffen in TV-Studios und Rapper-Labels. Die Hälfte der Bauteile stamme aus chinesischen Massenwaren. Jede Innovationszyklen dauere nur sechs Wochen – danach habe die Gegenseite Gegenmaßnahmen entwickelt. Krastev zufolge „läuft eine Art 17.-Jahrhundert-Textilproduktion im Tarnmodus“.
### 2. Putins Überraschung: Ukrainer:innen wollen nicht russisch sein
Putin habe „die ukrainische Gesellschaft völlig falsch eingeschätzt“. Die Widerstandskraft entstehe aus Scham über die Krim-Annexion 2014: „Das größte Mobilisierungsmoment war das Gefühl, sich selbst nicht verteidigt zu haben.“ Selbst pro-russische Oligarchen wehrten sich, weil sie ihr Land nicht aufgeben wollten.
### 3. Demografie als geopolitische Zeitbomme
Staaten wie Südkorea (Fertilitätsrate 0,7) oder Finnland (1,2) verlören binnen Jahrzehnten die Hälfte ihrer Bevölkerung. Das treibe Länder zu Atomwaffen, weil „Souveränität ohne Soldaten:innen nur durch Nukleararsenale zu sichern sei“. Gleichzeitig ertränken sich Autokrat:innen in Hybris: Putin und Xi träumten laut offenem Mikrofon davon, „150 Jahre alt“ zu werden – und damit für immer an der Macht zu bleiben.
### 4. Trump spielt den Zerstörer, weil er Amerikas Niedergang fürchtet
Trump verstehe die USA als „zerfließendes Monopol“ und wolle die Welt „so sehr zersplittern, dass alle bilateral von Washington abhängig“ seien. Seine Putin-Nähe erklärt Krastev nicht mit Kompromat, sondern mit Jahrzehnten alter Faszination für die Sowjetunion plus narzisstischem Selbstbild: „Er glaubt, mit seinem Charakter allein könne er China und Russland trennen.“
### 5. Europas Problem: Keine Technologie, keine Souveränität
Die EU habe „auf Globalisierung und Regulierungsmacht“ gesetzt, nun stünde sie vor einer „technologischen Mauer“. Weil Satellitenbilder und Raketenabwehr von den USA kommen, „spielt Europa auf Zeit“. Die Dependence zeige sich beim Ukraine-Krieg: Ohne amerikanische Daten „waren wir blind“.
### 6. Russlands Gesellschaft wird durch den Krieg umgeschichtet
Zehn Prozent der russischen Bevölkerung hätten Angehörige im Gefängnis. Deren Amnestie gegen Fronteinsatz lasse sie als „wahre Patrioten“ zurückkehren, während IT-Spezialist:innen und Kritiker:innen im Exil plötzlich „nicht russisch“ seien. Die hohen Soldlöhne und Hinterbliebenenrenten verheirate manche Paare nur auf dem Papier – weil Verwitwete mehr Geld erhalten.
## Einordnung
Der Falter liefert mit dieser knapp 52-minütigen Folge ein Lehrstück investigativen Journalismus. Statt oberflächlicher Analysten-Statements fragt Raimund Löw bis ins Detail nach, lässt Zahlen, Zitate und historische Analogien wirken und gibt der internationalen Expertise Krastevs Raum. Besonders gelungen: Die Verknüpfung technologischer, demografischer und psychologischer Faktoren zu einem Panorama globaler Unsicherheit. Kritisch anzumerken ist, dass weder ukrainische noch russische Stimmen zu Wort kommen; das Gespräch bleibt westlich-zentriert. Hin und wieder driftet es in akademische Breite ab, statt harte Nachfragen zu stellen – etwa, warum europische Sanktionspolitik so wenig Wirkung zeigt. Dennoch bietet die Sendung dichte Information, stringent aufbereitet, und verzichtet auf reißerische Töne. Sie lohnt für alle, die über Schlagzeilen hinaus die Systemfrage verstehen wollen.
Hörempfehlung: Wer die Ukraine, Russland und den Westen jenseits von Klischees durchleuchten will, bekommt hier eine knappe Stunde hochkarätige Analyse serviert.