ARD Presseclub: Regierung ohne Vertrauen - Wie gelingt der Aufbruch?
Der "Presseclub" diskutiert die 80-Punkte-Modernisierungsagenda der Bundesregierung zur Digitalisierung und Bürokratieeffizienz.
ARD Presseclub
18 min read3440 min audioIm "Presseclub" diskutieren Jörg Schönenborn sowie die Journalist:innen Patrick Bernau, Mark Schieritz, Hannah Suppa und Cordula Tutt über die von der Bundesregierung vorgelegte Modernisierungsagenda mit 80 Einzelmaßnahmen zur Digitalisierung und Bürokratieabbau. Die Gesprächsteilnehmer:innen zeigen sich grundsätzlich offen für die Vorschläge, betonen jedoch, dass es sich um kleinteilige Schritte handle, die nicht den großen Wurf ersetzen. Als positive Beispiele gelten die Online-Unternehmensgründung in 24 Stunden, ein Portal für KFZ-Anmeldungen und Schulungen für Gesetzesschreiber:innen in den Ministerien. Die Runde konstatiert, dass Deutschland beim Digitalisierungs- und Bürokratieabbau aufgrund von Föderalismus, fehlender Koordination und überbordender Regulierungen im internationalen Vergleich zurückliege. Es bestehe jedoch ein hoher Leidensdruck, der jetzt zu Bewegung führen könne. Gleichzeitig werde der massive Haushaltsdruck auf Kommunen thematisiert, der bereits zu Einschnitten bei Kultur, ÖPNV und Sozialleistungen führe.
### 1. Bürokratieabbau als Managementaufgabe
Die Diskussion rahmt Bürokratieabbau primär als technische und administrative Herausforderung. Es gehe darum, Prozesse zu verschlanken und Digitalisierung voranzutreiben. Politische Interessenkonflikte, die hinter vielen Regelungen stecken, werden kaum thematisiert. Die Expert:innen präsentieren den Abbau von Regulierungen als weitgehend konsensfähiges Projekt.
### 2. Föderalismus als Hemmnis
Die uneinheitliche Nutzung bestehender digitaler Systeme wie dem IKFZ wird als zentrales Problem identifiziert. Der deutsche Föderalismus erschwere flächendeckende Lösungen, da Bundesländer und Kommunen unterschiedlich digitale Standards anwenden. Es bleibe unklar, wie eine bundesweite Vereinheitlichung realistisch umgesetzt werden soll.
### 3. Leidensdruck als Reformmotor
Die Runde einigt sich, dass der wirtschaftliche Druck und die wahrgenommene Krise Deutschlands eine "neue Ernsthaftigkeit" schaffen könnten. Die Argumentation folgt dabei der Logik: Je größer die Krise, desto größer die Wahrscheinlichkeit von Reformen. Ob dieser Zusammenhalt angesichts sozialer Einschnitte anhält, bleibe offen.
### 4. Kommunale Haushaltskatastrophe
Hannah Suppa verweist auf die massive Haushaltskrise der Städte und Gemeinden mit einem jährlichen Finanzloch von 30 Milliarden Euro. Die Kommunen seien gezwungen, Kultur, Soziales und Infrastruktur zu kürzen. Diese Entwicklung werde jedoch nicht als zentrale Herausforderung für den "Aufbruch" thematisiert, sondern eher am Rande erwähnt.
### 5. EU-Regulierungen als Sündenbock
Die europäische Ebene wird wiederholt als Quelle übermäßiger Bürokratie genannt. Dabei wird ausgeblendet, dass deutsche Behörden oft "Goldplating" betreiben und EU-Vorgaben zusätzlich verschärfen. Die Expert:innen fordern mehr "Prüfdichte" bei Brüsseler Regulierungen, ohne jedoch konkrete Alternativen aufzuzeigen.
## Einordnung
Die Diskussion folgt einem durchsichtigen Muster: Die politische Klasse und ihre mediale Begleitung inszenieren Bürokratieabbau und Digitalisierung als Allheilmittel für Deutschlands strukturelle Probleme. Dabei wird das Thema weitgehend entpolitisiert - statt über Machtverhältnisse und Verteilungsfragen zu sprechen, geht es um Verwaltungsmodernisierung und Effizienz. Die Expert:innen bedienen sich dabei eines technokratischen Diskurses, der soziale Konflikte ausblendet. Dass viele Regulierungen durchaus legitime Schutzfunktionen erfüllen - sei es für Arbeitnehmer:innen, Umwelt oder lokale Demokratie - wird kaum thematisiert. Stattdessen wird der Eindruck erweckt, Deutschland sei durch zu viele Regeln angeblich "lahmgelegt". Die Tatsache, dass Kommunen massiv unterfinanziert sind und deshalb Soziales und Kultur streichen müssen, wird zwar erwähnt, aber nicht als zentrale Ursache für den gesellschaftlichen Verfall thematisiert. Es bleibt unklar, wie durch Digitalisierung und Bürokratieabbau die tieferliegenden Probleme wie wachsende soziale Ungleichheit oder der Klimawandel gelöst werden sollen. Die Sendung transportiert vor allem eine Botschaft: Die Politik tut etwas - und zwar etwas, das niemanden wirklich fordert.