Im Gespräch mit Wolf Ortiz-Müller, Leiter der Berliner Beratungsstelle Stop-Stalking, klären Melanie Büttner und Sven Stockrahm, wann „digitaler Kontakt“ zur Straftat wird. Ortiz-Müller unterscheidet zwischen harmloser Neugier und systematischer Nachstellung: Kern sei ein einseitiger Kontaktwunsch trotz klaren Ablehnungssignals. Er skizziert die Psychologie der Betroffenen (chronische Angst, PTBS) und der Täter:innen (Bindungstraumata, Kontrollverlust) und betont, dass 80 % der Fälle von Männern ausgehen, 20 % von Frauen. Rund 14 % aller Frauen und 5 % aller Männer erleben laut Studie im Leben mindestens einmal Stalking; juristisch werden jährlich knapp 25.000 Anzeigen erstattet. Die Beratung verfolgt einen doppelten Ansatz: Betroffene erhalten Sicherheits- und Dokumentations-Tipps, Täter:innen bekommen verstehende, aber klare Grenzen setzende Gespräche, um alternative Bewältigungsstrategien zu erlernen. Die Episode fordert bessere gesetzliche Rahmenbedingungen (pro-aktive Täterprogramme, Datenschutzlockerungen für Hilfsangebote) und thematisiert gesellschaftliche Klischees (Männlichkeit, Victim-Blaming) sowie praktische Trennungskompetenz zur Prävention. ### 1. Stalking beginnt im Kopf der Täter:innen – und endet oft mit traumatischen Symptomen bei den Betroffenen Ortiz-Müller beschreibt Stalking als „permanenten Schatten“. Betroffene berichten Intrusionen, permanente Wachsamkeit, Depressionen und Suizidgedanken. Die psychische Belastung resultiere aus der Seriellität der Grenzüberschreitungen: „150 Seiten Screenshots … ich liebe dich, ich hasse dich – in einem wilden Wechsel.“ ### 2. Es gibt keinen „typischen“ Stalker, sondern Menschen mit fragmentiertem Selbstwertgefühl Die Popkultur zeige monsterhafte Psychopath:innen („You“), in der Realität seien viele Täter:innen „Menschen wie wir“. Entscheidend sei die Unfähigkeit, Trennungsschmerz auszuhalten. Ein Tagebuch-Zitat einer Klientin: „Was wäre, wenn mir das gar nicht so unfassbar peinlich sein müsste?“ ### 3. Digitale Kommunikation verleiht Stalking neue Qualität, aber keine neue Existenz Etwa 98 % aller Fälle enthalten Online-Elemente (WhatsApp, Fake-Accounts, GPS-Tracker). Die niedrigschwellige Kommunikation fördere impulsive und enthemmte Impulse. Die juristische Herausforderung: juristisch ist Stalking erst seit 2007 in Deutschland ein eigener Straftatbestand („altes Verhalten, neues Verbrechen“). ### 4. Geschlechterklischeus belasten Betroffene und erschweren Hilfsanspruch 80 % der Täter:innen seien männlich, 20 % weiblich. Polizei und Gesellschaft würden Frauen-Täter:innen oft bagatellisieren („der möchte ich auch mal hinterher sein“). Männer-Betroffene wiederum würden sich selbst als „kein Opfer“ wahrnehmen und Unterstützung verweigern. ### 5. Effektive Intervention braucht beide Seiten – und bessere Infrastruktur Stop-Stalking begleitet Betroffene (Risiko-Screening, Dokumentations-Tipps, „Stalking-freie Räume“) und Täter:innen (Tagebuch, Perspektivwechsel-Übungen). Für eine bundesweite Versorgung fehlen pro-aktive Täterprogramme und gesetzliche Regelungen, Daten Beschuldigter an Fachstellen weiterzugeben. ### 6. Klare, respektvolle Trennungskommunikation kann Stalking-Risiken senken Unklare Botschaften („Es liegt nicht an dir“) erzeugen Hoffnung. Empfohlen wird ein einmaliges klares Statement („Ich will keinen Kontakt mehr“), danach konsequent ignorieren, um intermittierende Verstärkung zu vermeiden – ein Prozess, der innere Standfestigkeit erfordere. ## Einordnung Die ZEIT-Sendung präsentiert sich als professioneller Ratgeber: innen-Podcast mit journalistischem Anspruch. Die Moderation gelingt eine klare Trennung zwischen Aufklärung und Sensationslust; auf drastische Einzelfälle wird nur verwiesen, wenn sie konzeptionell passen. Ortiz-Müller wird als kompetente Leitfigur etabliert, Belege (Studien, Zahlen) fließen ein, wissenschaftliche Konstrukte werden verständlich übersetzt. Besonders positiv: Es wird konsequent die Perspektive der Täter:innen mit einbezogen, ohne das Leid der Betroffenen zu relativieren – ein diskursiv wichtiger Beitrag gegen binäre Monster-Opfer-Diskurse. Kritisch bleibt, dass die Episode zwar strukturelle Defizite (fehlende Täterprogramme, Geschlechterstereotype) benennt, aber keine weiteren Expert:innen oder Betroffene zu Wort kommen; so verbleibt das Narrativ bei Einzelintervention statt gesellschaftlichem Umbau. Hinweise auf Victim-Blaming oder rechtsextreme Verschwörungstheorien sind nicht erkennbar. Insgesamt liefert die Sendung eine sachliche, empathische und handlungsorientierte Diskussion eines massenhaften, aber oft verharmlosten Gewaltphänomens.