Der Politikpodcast: „Wir schaffen das" - Erfolge und offene Probleme #441
Der Politik-Podcast zieht zehn Jahre nach Merkels berühmten Worten eine vielschichtige Bilanz der Flüchtlingsintegration.
Der Politikpodcast
53 min read2299 min audioVor zehn Jahren sprach Angela Merkel den berühmten Satz "Wir schaffen das". Im Rückblick diskutieren die Deutschlandfunk-Korrespondent:innen Stephan Detjen, Luise Sammann und Michael Watzke, was tatsächlich gelungen ist – und was nicht. Sie werfen einen differenzierten Blick auf die Integrations-Bilanz, die anfängliche Willkommenskultur, den schleichenden Stimmungswandel und die Frage, ob das Versprechen eingelöst wurde.
### 1. Die Arbeitsmarktintegration sei ein „mega Erfolg"
Luise Sammann berichtet von Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: „Wir haben jetzt Zahlen von 64 %, die Vollzeit arbeiten … wenn wir sogar nur auf die Männer gucken, sind wir bei 86 % inklusive der Selbstständigen.“ Dies liege über dem Wert deutscher Männer ohne Migrationshintergrund. Kritisch bleibe das geringere Einkommen (70 % des deutschen Durchschnitts) und die geringe Erwerbsquote der Frauen (35 %).
### 2. Bund und Kommunen hätten sich im Schuldzuweisungsmodus bewegt
Michael Watzke zitiert Kommunalpolitiker: „Der Bund hat nicht alles getan dafür, dass wir es schaffen und er hat uns alleine gelassen. Wir haben … die finanziellen Kosten, aber auch die sozialen Kosten … die haben wir tragen müssen und tragen sie bis heute.“
### 3. Die Willkommenskultur sei bröckelnd und selektiv geworden
Sadat Amiri, 2015 aus Afghanistan geflohen, spüre heute „dass die Stimmung nicht mehr dieselbe ist, … feindseliger geworden ist“. Gleichzeitig hätten sich Helferkreise in Dörfern „irgendwann in den Jahren 17, 18, 19“ zurückgezogen, weil sie sich überfordert fühlten.
### 4. Die „Alternative“ 2015 war laut Detjen eine Grenzschließung mit Wasserwerfern
„Die Alternative, die wirklich klar im Raum stand: wir machen die Grenze zu … setzt Wasserwerfer und Polizeiknüppel gegen Flüchtende – auch gegen Frauen und Kinder – ein.“ Die Entscheidung dagegen habe sich aus Menschlichkeit und europarechtlichen Bedenken ergeben.
### 5. Gesellschaftliche Identität bleibe ungeklärt
„Was wirklich nicht gelungen ist, ist … sich damit selber abzufinden. Diese Fragen nach der Identität, wer ist dieses ‚Wir‘ … das ist nach wie vor das, was Deutschland mit sich selber ausmachen muss.“
### 6. Kriminalitätsstatistiken würden emotional aufgeladen, aber kaum kontextualisiert diskutiert
Watzke: „Wir haben … Statistiken, die zeigen, dass … Flüchtlinge … bei Gewaltverbrechen stärker repräsentiert“ sind. Sammann relativiert: Wenn man für Alter und Geschlecht kontrolliere, „dass dann das Merkmal Migration gar keine Rolle mehr spielt“.
## Einordnung
Der Podcast zeigt journalistische Reife: Die drei erfahrenen Korrespondent:innen liefern keine einfachen Antworten, sondern spannen einen weiten Bogen von persönlichen Erfahrungen bis zu strukturellen Analysen. Besonders bemerkenswert ist, dass sie konkurrierende Deutungen nicht nivellieren, sondern ausspielen: So stehen die beeindruckenden Arbeitsmarktdaten neben Kommunal-Klagen und Sorgen um Sicherheit. Die Redaktion bemüht sich um differenzierte Perspektiven – etwa indem sie statistische Einordnungen gleich mitliefert –, lässt aber kaum Betroffene selbst zu Wort kommen. Die große Erzählung von „Wir schaffen das“ wird damit entzaubert, ohne dass eine neue Leerstelle entsteht. Stattdessen bleibt eine offene Frage: Wie kann ein sich wandelndes Land seine eigene Identität erneuern, ohne Polarisierung zu befeuern? Die Folge liefert dafür viele Anstöße, aber keine Patentrezepte.
Hörempfehlung: Wer zehn Jahre danach sachlich und vielschichtig nachrechnen will, was aus Merkels Versprechen geworden ist, bekommt hier eine fundierte Orientierungshilfe.