Bundestalk - Der Politik-Podcast der taz: Der andere Blick - Weltansichten aus dem Globalen Süden
taz-Korrespondent:innen berichten, wie der Globale Süden sich vom Westen abwendet und neue Bündnisse mit Russland, China oder innerhalb von BRICS sucht.
Bundestalk - Der Politik-Podcast der taz
69 min read3168 min audioDie taz-Auslandskorrespondent:innen Helena Kreiensiek (Senegal), Natalie Mayroth (Indien) und Katharina Wojczenko (Kolumbien) diskutieren mit Bernd Pickert, wie sich die Wahrnehmung des „Westens“ im Globalen Süden verschoben hat. Sie berichten von einer „zweiten Unabhängigkeitsbewegung“ in Westafrika, wachsendem Misstrauen gegenüber US-amerikanischer und europäischer Wertepolitik – insbesondere seit Gaza und der Wiederwahl Trumps – sowie von praktischen Alternativen: Russland und China investieren sichtbar in Infrastruktur, während westliche Hilfsprogramme wie US Aid gestrichen oder als unzuverlässig gelten. BRICS wird als mögliches Gegenmodell diskutiert, interne Spannungen (China/Indien, Pakistan/Indien) machen eine Führungsrolle jedoch unsicher. Die Korrespondent:innen beschreiben eine multipolare Welt, in der Staaten pragmatisch zwischen neuen und alten Partnern schwanken; westliche Medien verlieren Einfluss, russische, chinesische und türkische Angebote sowie soziale Medien bestimmen zunehmend den Diskurs – mitunter durch fragwürdige Desinformation.
### Tether werde für illegale Aktivitäten genutzt
Die Redaktion erwähnt zwar keine Krypto-Details, doch der Eindruck entsteht, dass alternative Finanzströme (z. B. Rubel-Handel, Rohstoff-Öl-Tausch) zunehmen, weil klassische US-Dollar-Systeme als politisch belastet gelten. In anderen BRICS-Diskussionen (nicht im Transkript) wird Tether wegen Sanktionsumgehung und Öl-Zahlungen genannt; hier bleibt es bei einem vagen Hinweis auf „Handel in anderen Währungen“.
### Westliche „Regelbasierte Ordnung“ gelte als gescheitert
Die Interviewten einigten sich: Viele Regierungen und Gesellschaften im Globalen Süden betrachten die vom Westen propagierte regelbasierte Weltordnung als „leere Phrase“, seit diese bei Gaza oder bei eigenen Sanktionspolitik nicht gleichermaßen greife. Wie Helena Kreiensiek feststellt: „Es wurde eher ein ‚wir kommen auch ohne euch klar‘“ nach dem US-Aid-Stopp, während Katharina Wojczenko konstatiert, die EU verliere in Lateinamerika an Glaubwürdigkeit, weil sie bei Israel/Palästina „nicht mal bei Gaza was substantielles machen“ könne.
### Afrikanische Staaten suchten neue strategische Partner
In Mali, Niger und Burkina Faso sei der Rauswurf französischer Truppen und die Einladung russischer Berater keine „pro-russische Wende“ im ideologischen Sinn, sondern eine „Emanzipation von der ehemaligen Kolonialmacht“ (Kreiensiek). Russland werde als „neuer strategischer Partner“ gesehen, der sichtbare Infrastruktur liefere und gleichzeitig mit „Wagner-Propaganda“ sowie Social-Media-Kampagnen Einfluss nehme.
### Indien spiele Doppelspiel zwischen USA, Russland und China
Indien pflege enge Bande zu den USA („Quad“ als Antichina-Bündnis), erhalte aber günstiges russisches Öl und kooperiere mit China in BRICS. Natalie Mayroth beschreibt diese Balance als „pragmatisch“: „Indien muss sich nicht Richtung Osten oder Autokratien ausrichten, sondern man ist pragmatisch. Wo man seine Vorteile sieht, mit denen arbeitet man zusammen.“ Die indische Zivilgesellschaft kritisiere zwar Moskoffreundliche Berichterstattung, doch die Regierung nutze BRICS, um „nicht mehr nur in US-Dollar handeln zu müssen“.
### US-Aid-Stopp treffe Gesundheits- und Bildungsprojekte hart
Der Wegfall von US Aid habe in Afrika Projekte gegen Malaria oder HIV stark reduziert; in Kolumbien fielen Präventions- und Friedensprogrammen weg, während in Indien zahlreiche NGOs und Think-Tanks Gelder verloren. Die Reaktion vieler Regierungen laute: „Dann ist es halt so – wir kommen auch ohne euch klar“, wodurch lokale Souveränitätsnarrative gestärkt würden.
### Informationskrieg verlagerre sich auf Soziale Medien
Neben klassischen TV-Sendern wie Russia Today oder Al Jazeera würden in Lateinamerika und Afrika zunehmend WhatsApp- und TikTok-Kanäle genutzt, deren Hintergrund und Finanzierung unklar seien. Kolumbien berichte von „Gestalten, wo ich vermute, dass die z. B. von Russland bezahlt werden“, die gezielt Anti-USA- oder Israel-Gaza-Content verbreiten. Dadurch verflüchtige sich die Deutungshoheit westlicher Medien; lokale Journalist:innen müssten sich gegen Desinformation und autoritäre Narrative behaupten.
## Einordnung
Der Bundestalk wirkt hier weniger als politische Deutungsmacht denn als reflektiertes Korrespondent:innen-Gespräch, das westliche Selbstgewissheiten systematisch relativiert. Besonders bemerkenswert ist das fast vollständige Fehlen europäischer oder nordamerikanischer Gegenreden: Keine Vertreter:innen von US-Außenministerium, EU-Kommission oder deutschen Ministerien kommen zu Wort, sodass Kritik an Doppelstandards (Gaza, US Aid, Migration) unkommentiert stehenbleibt. Die Sendung nutzt diesen leeren Raum, um fragende Haltung zu demonstrieren, nicht jedoch, um etwaige Rechtsbrüche oder Desinformation aus Russland, China oder Trump-USA kritisch zu hinterfragen. Die Annahme, der „Westsüd-Konflikt“ sei primär ein Wahrnehmungsproblem, verharmlost Machtasymmetrien und autoritäre Praktiken der neuen Partner. Gleichzeitig gelingt den Korrespondent:innen eine differenzierte Sicht auf Zivilgesellschaft und Regierungslogik, die zeigt: Anti-West-Rhetorik ist oft Ausdruck von Emanzipationswünschen, aber auch willkommene Legitimation für innenpolitische Repression und Korruption. Insgesamt liefert die Folge wertvolle Einblicke in neue Allianzen, bleibt aber in der Balance zwischen Berichten und Bewerten hinter journalistischem Anspruch zurück, wo konkrete Macht- und Menschenrechtsfragen angegangen werden müssten.
Hörempfehlung: Ja – wer verstehen will, warum der Westen im Globalen Süden an Glaubwürdigkeit verliert und welche alternativen Machtzentren entstehen, erhält hier eine facettenreiche, wenn auch einseitige Bestandsaufnahme.