FALTER Radio: Florian Klenks Besuch im Bezirksgericht - #1438

Ein ernüchternder Blick auf die österreichische Alltagsjustiz zwischen Bagatellverfahren und strukturellen Problemen.

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Florian Klenk, Chefredakteur des FALTER, und Richter Oliver Scheiber diskutieren einen Tag im Bezirksgericht Wien-Meidling. Thema sind neun alltägliche Strafverfahren – von Parfümdiebstahl über Sozialbetrug bis zu einem Fall wegen 1,30 Euro Parkgebührenbetrug. Klenk begleitete Scheiber, um die Realität der Justiz jenseits der großen Korruptionsprozesse zu erkunden. ### Ein schwer kranker Kleinkrimineller muss 23 Monate ins Gefängnis Ein über 30-jähriger Mann sei wegen Parfümdiebstahls und einer Körperverletzung angeklagt gewesen, wobei sich herausstellte, dass er schizophren und schwer drogensüchtig sei. Durch mehrere kleine Vorstrafen müsse er nun 23 Monate ins Gefängnis, was etwa 70.000 Euro Haftkosten verursache. "Seine Mutter war dort. Es ist mir aufgefallen, dass der Oliver Scheiber die Mutter nach vorne gebeten hat", berichtet Klenk über eine menschliche Geste im Verfahren. Der Fall verdeutliche, wie das System bei Anhäufung kleiner Delikte irgendwann "kippt". ### Staatsanwaltschaft klagt wegen 1,30 Euro Parkgebührenbetrug an Eine Pharmazeutin sei wegen Betrugs angeklagt worden, weil sie den abgelaufenen Behindertenausweis ihrer verstorbenen Großmutter im Auto liegen hatte und 15 Minuten parkte. Die Stadt Wien zeige "automatisiert Leute, die einen Behindertenausweis verwenden, der ihnen nicht gehört oder der abgelaufen ist wegen Betrug an". Der Aufwand sei enorm gewesen: "Da muss der Richter eine Verhandlung führen, da muss er die Zeugen befragen, dann muss er ergründen, welchen Vorsatz sie hat. Alles wegen 1,30 Euro." ### Massenverfahren überlasten die Justiz bei Bagatelldelikten Bei neun Verfahren pro Tag handele es sich um "Massenverfahren, weil wir Tausende davon jedes Jahr abwickeln in Österreich". Gleichzeitig herrsche "ein unglaublicher Mangel an juristischem Personal, wo es um die wirkliche Bekämpfung von Schwerkriminalität geht". 67 Prozent der Bezirksgerichtsverfahren würden bereits durch Diversion oder Freispruch erledigt, dennoch blieben Tausende Bagatellverfahren übrig. ### Viele Angeklagte ohne Rechtsbeistand vor Gericht "90 Prozent oder mehr der Menschen vor Strafbezirksgerichten sind ohne Verteidiger", erklärt Scheiber. Dies schaffe "eine völlig andere Situation, wenn ich quasi schlecht vorbereitet bin, ein paar Wochen lang vielleicht schlecht schlafe, weil ich nicht weiß, was mich erwarte und dann ohne Begleitung zu einer Verhandlung gehe". Bei großen Korruptionsfällen gebe es dagegen Starverteidiger, die über die Belastung ihrer prominenten Mandanten klagten. ### Österreich habe zu viele Menschen in Haft bei sinkender Kriminalität "Wir haben in Österreich aktuell ungefähr 10.000 Menschen in Haft. Das sind ungefähr gleich viele wie vor 20 oder 40 Jahren, obwohl die Kriminalität sehr stark gesunken ist", stellt Scheiber fest. Österreich habe "vor 60 Jahren, in den 1960er Jahren, drei bis viermal so viele strafrechtliche Verurteilungen gehabt", das Land sei "ganz, ganz viel sicherer geworden". Dennoch entspreche dies nicht dem öffentlichen Sicherheitsgefühl. ### Justiz zwischen Sozialarbeit und Strafverfolgung "Die Strafverfahren haben oft dann Sinn, wenn sie Gelegenheit geben, dass irgendjemand einmal sich um jemanden kümmert und um Probleme kümmert", erläutert Scheiber. Gleichzeitig stellten sich die Gerichte die Frage, "ob das wirklich die Strafgerichte sein müssten oder ob da nicht schon weit vorgelagert Sozialamt oder andere Stellen besser intervenieren könnten". ## Einordnung Das Gespräch bietet einen seltenen, ungeschminkten Einblick in die Alltagsjustiz jenseits medienwirksamer Großverfahren. Klenks Reportage-Ansatz ermöglicht eine differenzierte Betrachtung struktureller Probleme: Die Diskussion zeigt auf, wie Ressourcenverschwendung bei Bagatelldelikten (1,30 Euro Parkgebühr) mit dem Mangel an Personal für Schwerkriminalität kontrastiert. Beide Gesprächspartner argumentieren sachlich und selbstkritisch – Scheiber reflektiert die Grenzen seines Berufs, während Klenk seine "tough on crime"-Position bei Ausweisungen transparent macht. Problematisch erscheint die weitgehend unkritische Akzeptanz des Status quo: Dass 90 Prozent der Angeklagten ohne Verteidigung vor Gericht stehen, wird zwar erwähnt, aber nicht als strukturelles Gerechtigkeitsproblem diskutiert. Die Normalisierung von Massenverfahren und die Tatsache, dass psychisch Kranke mangels anderer Hilfsstrukturen durch das Strafsystem "betreut" werden, verdienen schärfere Kritik. Klenks Befürwortung von Ausweisungen als "Entzug eines Privilegiums" reproduziert rechtspopulistische Frames, ohne die menschenrechtlichen Dimensionen zu berücksichtigen. Das Gespräch hätte von zusätzlichen Perspektiven profitiert – etwa von Sozialarbeiter:innen, Strafverteidiger:innen oder Betroffenen selbst. Dennoch entsteht ein wertvolles Dokument über die oft übersehene Realität der Alltagsjustiz und deren gesellschaftliche Funktion.