FALTER Radio: Einkommensverteilung: Visionen der Ungleichheit - #1481
Der FALTER-Podcast präsentiert Branko Milanovićs historische Reise durch die Ökonomie der Ungleichheit von Quesnay bis Piketty.
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12 min read2976 min audioDer FALTER-Podcast präsentiert eine Live-Aufzeichnung des Bruno-Kreisky-Forums, in der der weltbekannte Ungleichheitsforscher Branko Milanović sein Buch "Visionen der Ungleichheit" vorstellt. Im Gespräch mit dem Publizisten Robert Misik spannt Milanović einen historischen Bogen von François Quesnay über Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx bis zu Thomas Piketty. Sein zentrales Anliegen: die Geschichte der Wirtschaftstheorie ausschließlich durch die Brille der Einkommensungleichheit zu lesen und damit neue Erkenntnisse über die Entwicklung unserer Gesellschaften zu gewinnen.
### 1. Quesnay als Erfinder der Klassenanalyse
Milanović betont, dass der Franzose François Quesnay als Erster überhaupt soziale Klassen definiert habe. Dies sei der Grundbaustein jeder Ungleichheitsbetrachtung, denn ohne Klassen könnten Verteilungsprozesse nicht erklärt werden. Moderne Ungleichheitsstudien ignorierten diesen Aspekt zunehmend, kritisiert Milanović: "One of the critiques towards the end of the book that I have about modern inequality studies is that they totally ignore social classes."
### 2. Fokus auf funktionale Einkommensverteilung
Der Ökonom konzentriert sich bewusst auf die funktionale Verteilung von Einkommen zwischen Arbeit, Kapital und Grundbesitz. Diese technische Einschränkung erlaube eine präzise Analyse, wie sich die Einkommen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen über die Zeit entwickelt hätten. Milanović: "It essentially means distribution between capital and labor... how would they evolve and what do they imply for the incomes of such groups?"
### 3. Fehlende Frauen in der Geschichte der Ökonomie
Auffällig sei, dass in seiner Geschichte der ökonomischen Ungleichheitsforschung ausschließlich Männer vorkämen. Dieser Befund wirft ein Schlaglicht auf die Geschlechterstrukturen der Wissenschaftsgeschichte. Milanović nennt dies explizit als "interesting question" und bietet damit einen Reflexionspunkt über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Produktion.
### 4. Interpretationsansatz statt Zitat-Jagd
Das Buch verstehe sich als bewusste Interpretationsleistung. Milanović stellt den klassischen Autoren die Frage, welche Faktoren ihrer Meinung nach Ungleichheit bestimmt hätten. Dabei betont er: "It's a question of interpretation... there is no such chapter in Marx which says inequality." Dieser hermeneutische Zugang ermögliche neue Einsichten über das Zusammenwirken ökonomischer und sozialer Prozesse.
### 5. Kritik an der Forschungslücke 1960-1990
Besonders kritisch sieht Milanović die Jahrzehnte zwischen 1960 und 1990, in denen Ungleichheit als Thema weitgehend aus der ökonomischen Forschung verschwunden sei. Diese Forschungslücke habe dazu beigetragen, dass politische Entscheidungsträger die wachsende soziale Spaltung in den letzten Jahrzehnten unterschätzt hätten.
## Einordnung
Der Podcast bietet einen faszinierenden Einblick in die intellektuelle Arbeit eines der wichtigsten Ungleichheitsforscher unserer Zeit. Milanović gelingt es, komplexe ökonomische Theorien in einem historischen Kontext verständlich zu machen, ohne dabei die wissenschaftliche Tiefe zu verlieren. Besonders bemerkenswert ist seine methodische Klarheit: Er definiert präzise seinen Untersuchungsgegenstand (funktionale Einkommensverteilung) und grenzt sich bewusst von anderen Verteilungsaspekten ab. Die bewusste Interpretationshaltung des Autors offenbart sowohl Stärken als auch Schwächen: Während neue Perspektiven auf klassische Texte erschlossen werden, bleibt unklar, ob diese selektive Lektüre nicht wichtige Aspekte der Originalwerke ausblendet. Die feministische Kritik an der ausschließlich männlichen Geschichte der Ökonomie bleibt leider oberflächlich. Dennoch liefert Milanović einen wichtigen Beitrag zur aktuellen gesellschaftspolitischen Debatte über steigende Ungleichheit und zeigt, dass viele der heute diskutierten Probleme bereits in der Geschichte der Wirtschaftstheorie durchdacht wurden. Die Gesprächsführung durch Robert Misik ist professionell und gelingt es, die komplexen Gedankengänge in einem Gespräch für ein breites Publikum zugänglich zu machen.