Der ARD Presseclub diskutiert mit Ellen Ehni, Michael Bröker (Table.Media), Anna Lehmann (taz), Stephan-Götz Richter (The Globalist) und Luisa Thomé (DIE ZEIT) über die Frage, ob Deutschland noch reformierfähig ist. Die Koalition aus CDU und SPD habe sich in Würzburg zwar auf Harmonie besonnen, doch bleibe das Papier dünn. Friedrich Merz fordere einen "Herbst der Reformen", wobei der Sozialstaat im Fokus steht. Es gehe um 1,3 Billionen Euro Sozialbudget, 30 % des BIP, wobei Deutschland im internationalen Vergleich nicht der Spitzenreiter sei. Die Debatte konzentriere sich auf das Bürgergeld, das symbolpolitisch aufgeladen sei, aber kaum Einsparpotenzial biete. Die eigentlichen Baustellen seien Rente, Gesundheit und Pflege, doch die Koalition habe diese in Kommissionen ausgelagert. Einigkeit bestehe lediglich bei der Bürgergeldreform, wobei die SPD und CDU jeweils Kompromisse eingehen müssten. Die Sendung nehme auch Anrufer:innen an, die unter anderem vor systematischem Missbrauch durch Zuwanderer warnen, was von den Gästen zurückgewiesen wird. ### Der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar Friedrich Merz behaupte, der Sozialstaat sei "mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar". Michael Bröker stimme dem zu: "Der Sozialstaat ist über die Jahrzehnte überkomplex geworden, aber auch überfinanziert." Die 500 verschiedenen Sozialleistungen würden von sechs Ministerien koordiniert und basierten auf 30 verschiedenen Einkommensbegriffen – das sei weder fair noch nachvollziehbar für Betroffene. ### Bürgergeld als Symbolpolitik mit begrenztem Einsparpotenzial Luisa Thomé betone, die Bürgergeldreform sei "Symbolpolitik" und kein Mittel zur Haushaltskonsolidierung. Die 47 Milliarden Euro Bürgergeld entsprächen nur 4 % der Sozialausgaben. Die Debatte diene der Wähler:innen-Rückgewinnung, nicht der substanziellen Reform. ### Die Anreizstrukturen seien falsch gesetzt Michael Bröker kritisiere die 100-Euro-Zuverdienstgrenze als zu niedrig. Jobcenter-Mitarbeiter:innen würden berichten, dass viele Bürgergeldempfänger:innen "zufällig genau 100 Euro" dazuverdienen – ein Hinweis auf Schwarzarbeit. Statt Kontrollen plädiere er für bessere Anreize: "Lass uns den Menschen mehr zutrauen." ### Die SPD habe ihre Kernwähler:innen verloren Stephan-Götz Richter warne, die SPD habe bei der Bundestagswahl 2 Millionen Stimmen an die CDU und 1 Million an die AfD verloren. Fast 40 % der Arbeiter:innen würden inzwischen AfD wählen – ein "Fanal" für die Partei, das sich viele Funktionär:innen nicht vor Augen hielten. ### Die großen Reformen seien in Kommissionen ausgelagert Anna Lehmann erkläre, die Koalition habe vereinbart, die heiklen Themen Rente, Gesundheit und Pflege in Kommissionen auszulagern. Die Vorschläge würden wohl nicht mehr in dieser Legislaturperiode umgesetzt. Ein "Herbst der Reformen" sei daher unrealistisch. ## Einordnung Der Presseclub präsentiert sich als klassisches journalistisches Streitgespräch mit klaren Positionen, aber auch mit blinden Flecken. Die Expertise der Gäste ist hoch, doch die Perspektiven bleiben eng gefasst: Es geht fast ausschließlich um Effizienz, Anreize und Haushaltskonsolidierung. Die Frage, wie Sozialleistungen strukturell zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen könnten, tritt zurück. Besonders auffällig ist, wie schnell sich die Debatte auf Einzelfälle und Klischees verengt – etwa wenn von "Schwarzarbeit" oder "Faulheit" die Rede ist. Die Anrufer:innen bringen wichtige Gegenperspektiven ein, etwa zu Mindestlöhnen, Arbeitgeberverantwortung oder struktureller Ausgrenzung. Doch diese bleiben marginal. Insgesamt liefert die Sendung eine solide Übersicht über die aktuelle Reformdebatte, ohne jedoch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse oder die Frage, wer in Deutschland eigentlich von wem lebt, grundsätzlich zu hinterfragen. Hörwarnung: Wer nach kritischen Analysen des Sozialstaats sucht, wird hier nur bedingt fündig.