Eib | عيب: “ميلاد وليد دقّة“: حُب ومقاومة
Liebe, Hochzeit und Elternschaft hinter Gittern: die Geschichte von سناء سلامة und وليد دقة als leiser Protest gegen das israelische Gefängnissystem.
Eib | عيب
45 min read3045 min audioDer Podcast "عيب" erzählt in dieser Folge die außergewöhnliche Liebes- und Widerstandsgeschichte von سناء سلامة und وليد دقة, einem palästinensischen politischen Gefangenen. Die Episode rekonstruiert, wie das Paar 1999 innerhalb des israelischen Gefängnisses Ashkelan heiratete, trotz aller Verbote und Schikanen. Später gelang es ihnen, durch die aussergewöhnliche Methode des „Spermien-Schmuggels“ ihre Tochter ميلاد (Milad) zur Welt zu bringen – ein Akt, der von der Gefängnisverwaltung als Straftat verfolgt wurde. وليد starb 2024 nach 38 Jahren Haft unter medizinisch zweifelhaften Umständen; bis heute verweigert Israel die Herausgabe seiner sterblichen Überreste an die Familie. Die Erzählung wird von سناء selbst sowie der Moderatorin سارة أبو الرب vorgetragen und mit Archivmaterial, Geräuschen und persönlichen Dokumenten angereichert.
### 1. Hochzeit hinter Gittern – ein Akt des zivilen Ungehorsams
Sanaa beschreibt, wie sie 1999 mit einem weißen Mercedes, geschmückt mit roten Schleifen, bis zur riesigen Stahltor von Ashkelan fuhr. Die Wachen öffneten wider Erwarten das Tor, „damit die Braut nicht aussteigen muss“. Das Paar bestand auf einem islamischen Vertragsakt, Fotos, Anwesenheit von Verwandten und einem kleinen Fest – und bekam alles durchgesetzt. Der Vorfall wurde zur Legende unter Gefangenen, weil er zeigte, dass selbst das strikte Gefängnissystem kleine Siege zulässt, wenn Menschen sich nicht beugen.
### 2. „Milad aus einer geretteten Samenzelle“ – Mutterschaft als Widerstand
Nach zwölfjährigem Kampf um das Recht auf künstliche Befruchtung gelang es سناء, eine Samenzelle وليدs zu schmuggeln und sich in einer arabischen Klinik in Nazareth impfen zu lassen. Die israelische Behörde erkannte das Kind zunächst nicht als وليدs Tochter an, verweigerte die Geburtsurkunde und bestrafte den Vater mit Isolation. Der Prozess endete vor Gericht; ميلاد erhielt schließlich den vollständigen Namen „ميلاد وليد دقة“. Für viele palästinensische Gefangene steht die Aktion symbolisch dafür, dass „nicht nur Mauern, sondern auch biologische Fortexistenz“ Teil des Widerstands sein kann.
### 3. „Ich habe nie Zeit zum Weinen“ – Strategien der psychischen Selbsterhaltung
Sanaa berichtet, sie habe sich bewusst auf das nächste praktische Ziel konzentriert: „Ich wollte ميلاد mit möglichst wenig Schaden aufwachsen sehen.“ Trauer wird in der Erzählung nie thematisch ausgesponnen, sondern in Aufgaben übersetzt: Gerichtsverfahren, Medienarbeit, das Sicherstellen von Schulplätzen. Diese Selbstaufgabe wird nicht romantisiert, sondern als Überlebensstrategie unter Besatzung beschrieben.
### 4. „Er starb am Tag seiner Freilassung“ – medizinische Vernachlässigung als Todesurteil
2023 sollte وليد nach verbüßter lebenslanger Strafe plus zwei zusätzlichen Jahren freikommen. Stattdessen erkrankte er schwer, wurde erst nach öffentlichem Druck ins Krankenhaus verlegt und starb dort am 7. April 2024 – exakt am Tag seines eigentlichen Freilassungstermins. Die Autopsie verweigerte Israel; bis heute liegt kein Bericht vor. Die Episode lässt keinen Zweifel, dass die medizinische Vernachlässigung systematisch war.
### 5. „Keine Trauerfeier, kein Grab“ – der Umgang mit toten Palästinensern als politisches Druckmittel
Nach seinem Tod wurde سناء kurzfristig unter Hausarrest gestellt, das Familienhaus in Baqa al-Gharbiyye von Polizei gestürmt und ein geplantes Kondolenztreffen verboten. Der Leichnam wurde einbehalten, um – so die Familie – auch im Tod die Kontrolle über وليد auszuüben. Der Podcast zeigt, dass diese Praxis nicht nur individuelle Trauer verhindert, sondern kollektive Erinnerungsarbeit kriminalisiert.
## Einordnung
Die Sendung arbeitet nicht mit klassischem Journalismus-Format: Es gibt keine Gegenrede, keine Recherche-Anmerkungen und keine Einordnung durch Expert:innen. Stattdessen wird ein narrativer Raum geschaffen, in dem سناءs Perspektive absolut im Mittelpunkt steht – was angesichts der allgegenwärtigen israelischen Stimmen in deutschsprachigen Medien eine bewusste Gegenkorrektur darstellt. Die Produktion nutzt Musik, Geräuschkulisse und lange Zitate, um emotionale Nähe zu erzeugen; Faktenchecks oder juristische Einordnungen bleiben aus. Diese subjektive Erzählweise ist konsequent, aber sie erschwert es Hörer:innen, die dargestellten Vorgänge (z. B. medizinische Unterversorgung, Sperrung von Leichen) eigenständig einzuordnen. Kritisch anzumerken ist, dass weder die israelische Seite noch unabhängige Stellen zu Wort kommen – ein Muster, das in vielen arabischsprachigen Podcasts vorherrscht, aber für ein internationales Publikum irritierend wirken kann. Dennoch leistet „عيب“ mit dieser Episode eine wichtige Erinnerungsarbeit: Sie erzählt von palästinensischem Leben jenseits der Terror-Debatte, von Liebe als politischem Akt und von der Alltäglichkeit von Widerstand unter Besatzung.