Echo der Zeit: Echo der Zeit: Erste Wahlen in Syrien seit dem Sturz von Assad
Die Echo-der-Zeit-Analyse erklärt, warum Syriens erste Parlamentswahl nach Assad keine echte Demokratie ist – und porträtiert zwei Kandidat:innen zwischen Hoffnung und System.
Echo der Zeit
12 min read1678 min audioDie Echo-der-Zeit-Folge vom 5. Oktober begleitet die erste Parlamentswahl in Syrien nach dem Sturz Assads – ein undurchsichtiger Prozess, bei dem nicht das Volk, sondern von der Übergangsregierung ernannte Gremien die Abgeordneten bestimmen. Korrespondent Thomas Gutersohn porträtiert zwei konträre Kandidat:innen: den von der Regierung nominierten, islamisch-konservativen Rechtsprofessor Muiz Zidan und die unabhängige Aktivistin Malak Schani, die trotz geringer Siegchancen ihre Teilnahme als "Demokratie-von-unten" versteht. Weitere Themen sind Tony Blairs geplante Rolle im künftigen Gazastreifen-Management, der Machtwechsel am UNO-Chefsitz und der Basler Streit um den Abriss eines denkmalgeschützten Roche-Hochhauses aus den 1960er-Jahren.
### 1. Undemokratische Wahlarchitektur
Die neuen syrischen Parlamentssitzen werden nicht vom Volk, sondern von ernannten Wahlgremien (zwei Drittel) und dem Übergangspräsidenten (ein Drittel) vergeben. Zidan rechtfertigt dies mit der Befürchtung, das Land sei «durch eine schwierige Übergangsphase» mit «zerstörten» Regionen und «Millionen Vertriebenen» – ohne Volkswahlen möglich zu sein. Kritiker:innen wie Schani sprechen von einem «undurchsichtigen Prozess», der Demokratie von oben verordnet.
### 2. Konservative Handpicker-Kandidaten
Islamisch-konservative Kandidaten wie Rechtsprofessor Zidan genießen klare Vorteile: Er wurde direkt vom Wahlkomitee vorgeschlagen, plädiert für «eine offene Volkswirtschaft im Rahmen des islamischen Bankenwesens» und versichert, das Parlament werde «die Anliegen der Bevölkerung kritisch diskutieren». Die Regierung signalisiert damit, dass soziale und religiöse Kontinuitäten gewünscht sind.
### 3. Aktivistische Teilnahme trotz Boykott
Malak Schani repräsentiert das Gegenmodell: Als frühere Anti-Folter-Aktivistin, mehrfach unter Assad inhaftiert, bewirbt sie sich eigenständig, erntet Spott («Sie wolle die Seiten wechseln») und geringe Unterstützung. Ihr Ziel sei es, «für marginalisierte Menschen in Damaskus» – Witwen, alleinerziehende Mütter, Enteignete – einzutreten. Sie sieht ihre Kandidatur als «Prozess», um «Demokratie nicht zu warten, sondern zu gestalten».
### 4. Internationale Begleitthemen
Neben Syrien beleuchtet die Sendung Tony Blairs geplante Rolle im künftigen Gazastreifen-Administrator:innen-Team – mit Blick auf seinen «arg ramponierten» Ruf in der arabischen Welt – sowie den bevorstehenden Wechsel an der UNO-Spitze und den Widerstand Basler Stadträt:innen gegen den Abriss eines frühen Hochhaus-Denkmals der Roche.
## Einordnung
Die Sendung arbeitet journalistisch gründlich: Sie zeigt die Defizite des syrischen Wahlmodells, indem sie offen die Machtkonzentration bei den Gremien benennt und unterschiedliche Kandidat:innen-Perspektiven gegenüberstellt. Besonders spannend ist das Porträt der Aktivistin Schani, das Mut macht, aber auch deren nahezu aussichtslose Situation transparent macht. Positiv: Es fehlen keine zentralen Stimmen – weder Regierungs- noch Oppositionsvertreter:innen – und die Redaktion unterlässt es, den Prozess als «demokratisch» zu beschönigen. Kritisch: Die internationale Begleitthemen (Blair, UNO, Basel) werden deutlich kürzer abgehandelt und wirken wie Ablenkungsmaterial im Vergleich zur Hauptreportage. Insgesamt liefert die Folge eine klare, faktenreiche Entscheidungshilfe, warum diese Wahl trotz formaler Beteiligung vieler Kandidaten kein demokratischer Durchbruch ist.