FALTER Radio: Jugendbanden außer Kontrolle? - #1485
Der Falter-Podcast analysiert schwere Jugenddelikte in Wien und fordert Reformen statt populistischer Schnellschüsse.
FALTER Radio
36 min read1869 min audioDer Falter-Podcast mit Raimund Löw beleuchtet zwei aktuelle Jugendgerichtsverfahren in Wien: Den Freispruch im Fall „Anna“, bei dem zehn Jugendliche eines zwölfjährigen Mädchens sexuell übergriffig wurden, sowie die Prozesse gegen die sogenannte „Liesinger Bande“, die eine Lehrerin monatelang erpresst, vergewaltigt und ihre Wohnung angezündet haben soll. Florian Klenk, langjähriger Recherchechef des Falter, beschreibt eine neue Qualität jugendlicher Gewalt, die er auf eine Kombination aus unbegrenztem Zugang zu gewaltpornographischen Inhalten, strikter religiöser Prägung und mangelnder Aufklärung zurückführt. Die Jugendlichen stammen laut Klenk überwiegend aus muslimisch geprägten Familien, sind in Österreich aufgewachsen und konsumieren seit frühester Kindheit hochdosiertes Cannabis sowie pornografische Inhalte. Das Gespräch kritisiert die mangelnde gesellschaftliche und justizielle Reaktion: Verfahren dauern Jahre, Eltern würden kaum in die Pflicht genommen, Präventionsangebote fehlten. Klenk plädiert für ein schweizerisches Modell, in dem Jugendrichter:innen als Case Manager:innen frühzeitig individuelle Hilfen veranlassen können. Die politischen Forderungen nach Abschiebungen oder Bootcamps hält er für kontraproduktiv, da sie strukturelle Probleme verschleiern. Die Justizministerin habe nun die Chance, mit einem Untersuchungsausschuss Reformen anzustoßen.
### Tether werde für illegale Aktivitäten genutzt
Laut Klenk konsumierten die jugendlichen Beschuldigten über Jahre gewaltpornografische Videos, in denen "Frauen als Schlampen heruntergemacht" würden. Diese Inhalte seien "alltäglich am Handy" verfügbar und würden von religiösen Predigern gleichzeitig als "Haram" gebrandmarkt. Die Burschen steckten damit zwischen "extrem freizügiger, gewalttätiger" und "extrem prüder, religiöser" Welt.
### Gericht lege Täterschutz über Opferschutz
Das Gericht habe im Fall Anna alle zehn Angeklagten freigesprochen, weil es keine "Gewalt", "geschlechtliche Nötigung" oder gebrochenen Willen feststellen könne. Diese Entscheidung sei "sehr mutig im Sinne des Täterschutzes", lasse aber therapeutische oder sozialpädagogische Maßnahmen aus. Der Richter habe die Burschen weder angesprochen noch zur Verantwortung gezogen.
### Eltern würden selten zur Verantwortung gezogen
In den Jugendgerichtshilfe-Berichten tauchen Erziehungsberechtigte kaum auf. Viele seien Berufstätige, stiegen sozial auf und ließen ihre Söhne gewähren. Gleichzeitig würden sie mit religiösen Tabus und "Respektschellen" erziehen, ohne über Sexualität oder Beziehungen zu sprechen.
### Justiz reagiere zu spät und zu lasch
Etliche der Jugendlichen seien bereits wegen Diebstahl, Raub, Körperverletzung oder Brandstiftung aufgefallen. Die Verfahren würden aber oft eingestellt oder jahrelang verzögert. Die Betroffenen zeigten nach einem Freispruch "den Finger" und fühlten sich bestätigt: "Wir dürfen das."
### Politische Forderungen nach Abschiebung und Bootcamps würden strukturelle Probleme vernebeln
Die meisten Jugendlichen seien in Österreich geboren oder aufgewachsen, einige österreichische Staatsbürger. Die Diskussion um „falsche Toleranz“ und Abschiebungen lenke von einer Reform der Jugendgerichtsbarkeit ab, die sich bisher "als Unfallmedizin" verstehe.
### Schweizer Modell könne Prävention und Elterneinbindung verbessern
Klenk fordert Jugendrichter:innen als Case Manager:innen mit Ressourcen für frühe individuelle Maßnahmen, verpflichtende Elternarbeit und eine parlamentarische Fact-Finding-Mission zur Jugendgerichtsbarkeit.
## Einordnung
Als journalistisches Format mit professionellem Anspruch gelingt dem Gespräch eine detailreiche, teils aufwühlende Aufarbeitung zweier schwerster Jugenddelikte. Die Argumentation bleibt stringent, indem sie individuelle Lebensweltfaktoren (Pornokonsum, religiöse Prägung, Drogen, fehlende Aufklärung) mit systemischen Versäumnissen (verzögerte Verfahren, fehlende Prävention, Elternentlastung) verknüpft. Die wiederkehrende Betonung des „islamischen Backgrounds“ und der „prüden religiösen Weltanschauung“ ist inhaltlich begründet, kann aber im öffentlichen Diskurs leicht als kulturelle Überzeichnung missverstanden werden. Die Einordnung wäre nuancierter, wenn zusätzlich nicht-muslimische Vergleichsgruppen oder andere Erklärungsfaktoren stärker einbezögen würden. Insgesamt liefert der Podcast wichtige Impulse für eine evidenzbasierte Debatte über Jugendgewalt ohne populistische Vereinfachung. Die journalistische Qualität ist hoch: Es werden direkte Zitate aus Gerichtsakten und Gutachten vorgelesen, Expertenpositionen eingeräumt und politische Forderungen durch konkrete Reformvorschläge ergänzt. Der Fokus auf strukturelle Lösungen statt auf Abschiebung oder Bootcamps hebt die Diskursebene deutlich über die aktuelle politische Reaktion.