Das Politikteil: Wie viel Migration verträgt das deutsche Schulsystem?

Ein Bildungsexperte analysiert Integrationsprobleme an deutschen Schulen, doch seine kulturalisierenden Erklärungen und migrationsskeptischen Lösungsansätze sind fragwürdig.

Das Politikteil
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In der Episode "Schaffen wir das? - Zur Integration in Schulen und Kitas" (deutsch: Können wir das schaffen? - Zur Integration in Schulen und Kitas) diskutieren die Moderator:innen Ileana Grabitz und Heinrich Wefing mit dem Zeit-Bildungsredakteur Martin Spiewak über die Herausforderungen der Integration in deutschen Bildungseinrichtungen. Mit einem Anteil von 20 Prozent Eingewanderten leben laut Spiewak in Deutschland mehr Menschen mit Migrationshintergrund als in jeder anderen Industrienation. Der Bildungsexperte argumentiert, das deutsche Schulsystem sei mit dieser "Superdiversität" überfordert und brauche radikale Reformen. ### Migrationsquoten in Schulklassen seien praktisch nicht umsetzbar Spiewak kritisiert den Vorschlag von CDU-Bildungsministerin Karin Prien für Migrationsquoten in Schulklassen als "schlechte Idee", obwohl die Grundidee "theoretisch nicht ganz dumm" sei. Er verweist auf gescheiterte Erfahrungen mit dem "Bussing" in den USA, wo schwarze Kinder in bessere Schulviertel gefahren wurden: "Am Ende war der Protest doch so stark gegen dieses, ich sag mal, hin- und herfahren mit Bussen, teilweise von den Schwarzen [...], aber hauptsächlich einfach von den weißen Müttern und Vätern." In Deutschland sei eine solche Quote "politisch nicht durchsetzbar", da bereits der Durchschnitt bei über 30 Prozent liege. ### Es gebe einen "linearen negativen Zusammenhang" zwischen Migrationshintergrund und Schulleistungen Spiewak bestätigt wissenschaftliche Erkenntnisse über Leistungsunterschiede: "Je mehr Schüler mit Migrationshintergrund in einer Klasse sind, desto schlechter werden die Leistungen." Als Hauptgründe nennt er Sprache, mangelnde Vertrautheit der Eltern mit dem deutschen System und soziale Verhältnisse. Besonders problematisch sei, wenn "38 Prozent der migrantischen Mütter einen niedrigen oder gar keinen Schulabschluss haben" - viermal mehr als im bundesdeutschen Durchschnitt. Die Rolle der Mütter sei entscheidend, da sie "den größten Einfluss auf ihre Kinder haben". ### Kulturelle Unterschiede zwischen Herkunftsgruppen seien real Spiewak differenziert zwischen verschiedenen Einwanderergruppen: Während vietnamesische Kinder "Bildungsabschlüsse" erreichten, "die nicht nur gleich zu den Deutschen sind, sondern in der Regel weit über den Deutschen liegen", hätten andere Gruppen größere Schwierigkeiten. Er führt dies teilweise auf "eine gewisse Kultur, man könnte sagen konfuzianische Kultur, wo eben Schule eine unglaubliche Bedeutung hat" zurück. Bei vietnamesischen Eltern habe er gehört: "Wenn die sich treffen, sagen sie nicht Hallo, sondern was ist die Note deines Kindes im letzten Zeugnis." ### Hamburg habe das "beste Schulsystem Deutschlands" Als positives Beispiel hebt Spiewak Hamburg hervor, das durch verpflichtende Sprachtests, gezielte Förderung und eine "andere Ressourcensteuerung" erfolgreich sei. Schulen mit hohem Migrationsanteil erhielten "einfach viel, viel, viel mehr Mittel". Hamburger Schulleiter sagten ihm: "Mehr Geld und Ressourcen brauche ich nicht in Hamburg. Das ist nicht mehr mein Problem." Diese Aussage habe er "aus anderen Bundesländern noch nie gehört". ### Eine Begrenzung der Migration könne den Schulen helfen Auf die Frage nach Migrationsbegrenzung antwortet Spiewak: "Ich würde sagen ja. Also ich glaube, eine gewisse Begrenzung ist sinnvoll." Er unterscheidet zwischen "ungesteuerter, illegaler Migration" und geregelter Zuwanderung qualifizierter Kräfte. Als Vorbild nennt er Kanada mit seiner "extrem gesteuerten Migration", wo selektiert werde: "Die müssen einfach Bildungsabschlüsse mitbringen. Die müssen Berufe mitbringen. Die müssen Geld mitbringen." ### Das Kita-System müsse als "Bildungsinstitution" verstanden werden Spiewak kritisiert einen "Mentalitätswandel" in Kitas: "Viele verstehen die Kitas immer noch nicht als Bildungsinstitution." Er beklagt eine Abwehr gegen Programme mit der Begründung "lass die Kinder doch spielen" und dem Schlagwort "Verschulung". Dabei sei frühe Sprachförderung entscheidend, da Kinder aus bildungsfernen Familien bis zum dritten Lebensjahr "drei Millionen Worte" weniger hörten als andere. ## Einordnung Das Gespräch bietet eine sachliche Analyse der Integrationsprobleme im deutschen Bildungssystem, bleibt aber in mehreren Dimensionen problematisch verkürzt. Spiewaks Expertise als langjähriger Bildungsjournalist ist unbestritten, doch seine Darstellung kultureller Unterschiede zwischen Migrantengruppen reproduziert teilweise essentialistische Zuschreibungen. Die positive Hervorhebung der "konfuzianischen Kultur" bei vietnamesischen Familien gegenüber "arabischen, türkischen" Kulturen bedient stereotype Narrative vom "Modell-Migranten" versus problembelasteten Gruppen. Besonders fragwürdig ist Spiewaks Zustimmung zu Migrationsbegrenzung als Lösung für Schulprobleme. Diese Argumentation übernimmt die Logik rechter Diskurse, die strukturelle Bildungsprobleme auf die Anwesenheit von Migrant:innen zurückführen, statt das Versagen des Systems zu thematisieren. Seine Idealisierung des kanadischen Selektionsmodells blendet aus, dass Deutschland aufgrund seiner geografischen Lage und historischen Verantwortung anderen Herausforderungen gegenübersteht. Positiv ist Spiewaks Fokus auf konkrete Reformvorschläge wie frühe Sprachförderung und bedarfsgerechte Ressourcenverteilung. Seine Kritik am dreigliedrigen Schulsystem und der mangelnden kulturellen Öffnung deutscher Schulen trifft strukturelle Defizite. Jedoch fehlt eine kritische Reflexion darüber, wie Kategorien wie "Migrationshintergrund" selbst zur Problemkonstruktion beitragen. Die Moderator:innen stellen kaum kritische Nachfragen zu kontroversen Positionen und verstärken durch affirmative Gesprächsführung problematische Frames. **Hörwarnung**: Das Gespräch reproduziert kulturalisierende Erklärungsmuster und legitimiert migrationsskeptische Positionen, ohne deren gesellschaftspolitische Implikationen ausreichend zu reflektieren.