Die Männer und der Autokult - #1439

Wirtschaftswissenschaftler Boris von Heesen erklärt, wie männliche Dominanz in Politik und Autoindustrie die Verkehrswende behindert und warum Parität der Schlüssel zur Lösung ist.

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In diesem Falter-Sommergespräch im Wiener Museumsquartier diskutierten die Falter-Naturressortleiterin Katharina Kropshofer und der Wirtschaftswissenschaftler Boris von Heesen über die Verbindung von Männlichkeit und Verkehrswende. Von Heesen, der neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch in der Männerberatung arbeitet, stellte sein Buch "Mann am Steuer - Wie das Patriarchat die Verkehrswende blockiert" vor. ### Männer verursachten 92 Prozent der Führerscheinverluste Von Heesen präsentierte drastische Zahlen aus Deutschland: 92 Prozent der jährlich entzogenen Führerscheine entfielen auf Männer, 85 Prozent der Straftaten im Straßenverkehr würden von Männern begangen. "Wenn Männer so fahren würden wie Frauen, würde fast niemand einen Führerschein verlieren und der ganze Straßenverkehr wäre friedlicher", argumentierte er. Auch nach Bereinigung um unterschiedliche Fahrleistungen blieben die Unterschiede bestehen - eine englische Studie zeige, dass Männer pro Milliarde Kilometer doppelt so viele Todesfälle verursachten. ### Das Auto als "Forterzählung der patriarchalen Geschichte" Das Automobil wirke wie eine "Metallrüstung", die Menschen von ihrem sozialen Umfeld abtrenne und zu aggressiverem Verhalten ermutige, erklärte von Heesen. Er bezeichnete das Auto als "Forterzählung der patriarchalen Geschichte", da es männliche Stereotype wie Stärke, Konkurrenzdenken und Statusorientierung verstärke. Die Prägung beginne bereits vor der Geburt - mit männlichen Babys werde weniger gesprochen und der Bauch weniger berührt. ### "Autonormativität" durchziehe alle Lebensbereiche Von Heesen griff den Begriff der "Autonormativität" auf - das Auto als gesellschaftliche Norm, von der alle anderen Fortbewegungsformen Abweichungen darstellten. Diese zeige sich nicht nur im Verkehrsverhalten, sondern durchziehe Politik, Wirtschaft und Verkehrsplanung. In Deutschland seien Handynetze entlang von Autobahnen gebaut worden, was zu besserem Empfang dort als in Zügen führe. ### Verflochtene Netzwerke zwischen Autoindustrie und Politik Die Macht der Autoindustrie manifestiere sich in engen Verbindungen zur Politik: Der deutsche Verkehrsminister Andreas Scheuer habe sich 2021 innerhalb von zwei Jahren 81-mal mit der Autoindustrie getroffen, aber nur einmal mit einem Umweltverband. Der ADAC habe 22 Millionen Mitglieder und sei zu 100 Prozent männlich besetzt in Präsidium und Vorstand. "Es gab noch nie eine Frau als Verkehrsministerin in Deutschland", kritisierte von Heesen. ### Subventionen förderten klimaschädliches Verhalten Das deutsche Dienstwagenprivileg koste jährlich sechs Milliarden Euro und werde zu 80 Prozent von Männern genutzt, die auch teurere Fahrzeuge wählten. Hinzu kämen die Pendlerpauschale, das Dieselprivileg und versteckte Subventionen durch kostenlose Infrastruktur. Von Heesen forderte ein Tempolimit, das 25 Prozent der klimaschädlichen Gase durch Autoverkehr einsparen könnte. ### Paritätische Besetzung als Lösungsansatz Als zentrale Lösung schlug von Heesen Parität in Politik, Verwaltung und Autokonzernen vor. Bei Mercedes säßen nur sieben bis zehn Prozent Frauen in Vorständen, während gleichzeitig 1000-PS-Autos entwickelt würden. "Hätten wir gleich viele Männer wie Frauen in der deutschen Autoindustrie", so seine These, "würden die Frauen stark genug werden, die weibliche Perspektive selbstbewusst einzubringen." ## Einordnung Das Gespräch präsentiert eine pointierte Gesellschaftskritik, die statistische Evidenz geschickt mit struktureller Analyse verknüpft. Von Heesens Argumentation folgt einer klaren feministischen Lesart: Männliche Dominanz in Verkehrspolitik und Autoindustrie reproduziere patriarchale Strukturen, die sowohl gesellschaftlich schädlich als auch für Männer selbst belastend seien. Seine Zahlen wirken überzeugend, bleiben aber auf den deutschen Kontext fokussiert - österreichische Vergleichsdaten werden nur sporadisch eingestreut. Bemerkenswert ist die Verknüpfung persönlicher Erfahrung (Männerberatung) mit struktureller Kritik. Von Heesen positioniert sich als männlicher Feminist, der sowohl Privilegien als auch Leiden der Männer thematisiert - ein rhetorisch geschickter Ansatz, um Widerstand zu minimieren. Seine Lösungsvorschläge bleiben jedoch weitgehend im Rahmen liberaler Reformpolitik: Quoten, Transparenz, Subventionsabbau. Radikalere Systemkritik am Kapitalismus oder Wachstumsparadigma wird ausgespart. Die Moderatorin führt unterstützend durch das Gespräch, hinterfragt aber kaum kritisch. Perspektiven von Automobilarbeiter:innen, ländlichen Regionen oder wirtschaftlichen Zwängen bleiben weitgehend unberücksichtigt. Das Format folgt klassischen Mustern progressiver Diskurse in urbanen, akademischen Milieus. Dennoch liefert das Gespräch wichtige Denkanstöße zur Verbindung von Geschlechterverhältnissen und Verkehrspolitik - ein bisher wenig beachteter Zusammenhang wird überzeugend hergestellt.