Cicero Podcasts: Volker Boehme-Neßler im Interview mit Ralf Hanselle – „Das ist ein Zivilisationsbruch“

Ein Staatsrechtler erklärt, warum die Debatte um die umstrittene Verfassungsrichterin-Kandidatin grundsätzlich gut für die Demokratie sei.

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Der Podcast behandelt die Kontroverse um die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht ("Die Debatten um die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf"). Moderator und Staatsrechtler Volker Böhme-Neßler von der Universität Oldenburg diskutieren die Richterwahl und grundsätzliche Fragen zur Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts. ### Verfassungsrichter bräuchten "souveräne Persönlichkeiten" statt "Aktivisten in Richterrobe" Böhme-Neßler argumentiert, das Bundesverfassungsgericht benötige unvoreingenommene Richter: "Wir brauchen souveräne Persönlichkeiten, die sehen können, andere Ansichten, andere Rechtsansichten können auch in Ordnung sein. Und wir diskutieren jetzt mal, was wir als Gesamtergebnis finden. Wir brauchen keine Aktivisten in Richterrobe, die dann ins Gericht gehen und sagen, so, jetzt sitze ich am Machthebel, jetzt kann ich was durchsetzen." ### Das Verfassungsgericht habe sich während Corona selbst beschädigt Der Rechtswissenschaftler kritisiert, das Gericht habe während der Pandemie seine Neutralität verloren: "Es war aber auch für den normalen Bürger, der weiter weg ist vom Recht, auch ein Schock. Weil er in dieser gläubigen Gewissheit, es gibt eine allerletzte Instanz, die mich rettet vor der bösen Politik, ganz erschüttert worden ist." Besonders problematisch sei das Abendessen der Richter mit der Regierung vor wichtigen Corona-Urteilen gewesen. ### Brosius-Gersdorfs Position zur Menschenwürde sei ein "Zivilisationsbruch" Ihre Aussage, die Menschenwürde beginne erst mit der Geburt, bezeichnete Böhme-Neßler als fundamental falsch: "Dann gibt es neun Monate lang menschliches Leben, das aber keine Menschenwürde hat. Das finde ich ein Problem [...] Das ist ja das, was die Nazis gemacht haben mit dem Euthanasie-Programm." Er plädiert dafür, dass jedes menschliche Leben automatisch Menschenwürde besitze. ### Die aktuelle öffentliche Debatte sei grundsätzlich begrüßenswert Trotz der Kontroverse befürwortet der Staatsrechtler die öffentliche Diskussion: "Es ist einerseits ein Trauerspiel, was wir da gerade sehen. Andererseits ist es aber auch ein Fortschritt, weil man nämlich sieht, das Parlament macht das, wozu es gewählt worden ist." Bisher seien Richterwahlen "im Dunkeln im Hinterzimmer ausgekungelt" worden. ### Parteiverbote seien "im Grundsatz total undemokratisch" Zur AfD-Verbotsdiskussion warnt Böhme-Neßler vor einer zu leichtfertigen Haltung: "Man wünscht sich eigentlich Kandidaten im Bundesverfassungsgericht, die erstmal für Demokratie sind und erstmal sagen, Demokratie heißt freie Meinungsäußerung, freie Debatte, freie Parteien." Das Parteienverbot solle absoluter Ausnahmefall bleiben. ## Einordnung Das Gespräch zeigt exemplarisch die Spannungen zwischen juristischer Professionalität und politischer Positionierung in der Richterwahl. Böhme-Neßlers Argumentation folgt einer konservativen verfassungsrechtlichen Linie, die Neutralität und Zurückhaltung des Gerichts betont. Seine scharfe Kritik an Brosius-Gersdorfs Menschenwürde-Position verwendet dabei rhetorisch aufgeladene Begriffe wie "Zivilisationsbruch" und Nazi-Vergleiche, was die sachliche Diskussion emotional auflädt. Problematisch ist auch seine pauschale Charakterisierung als "Aktivistin", die suggeriert, dezidierte rechtswissenschaftliche Positionen seien per se disqualifizierend. Die Diskussion spiegelt einen tieferliegenden Konflikt um die Rolle des Verfassungsgerichts wider: zwischen einem Ideal richterlicher Neutralität und der Realität, dass Verfassungsrecht immer auch gesellschaftspolitische Wertungen enthält. Während Böhme-Neßlers Plädoyer für Transparenz im Wahlverfahren nachvollziehbar ist, bleibt seine Alternative - wer denn die "richtigen" neutralen Richter sein sollen - vage. Seine eigene konservative Prägung wird dabei nicht reflektiert.