Der Literaturpodcast „Nem rossz könyvek“ widmet sich in dieser knapp 90-minütigen Folge ausschließlich dem Werk der französischen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux. Zu Gast ist Orzóy Ágnes, verantwortliche Lektorin der bisher auf Ungarisch erschienenen Ernaux-Bände beim Magvető Verlag. Sie erläutert, wie Ernaux’ sogenannte „écriture plate“ – eine bewusst schlichte, metaphern- und gefühlsarme Sprache – funktioniert, warum sie für die Übersetzung besonders schwierig ist und wie sich die französischen Soziolog:innen Pierre Bourdieu und Michel Foucault auf Ernaux’ Denken auswirkten. Im Zentrum steht die Frage, warum die Autorin persönliche Scham- und Klassenerfahrungen (z. B. den verbotenen Schwangerschaftsabbruch in „L’événement“ oder die soziale Demütigung in „La honte“) kollektiv erzählbar macht, ohne in klassische Autofiktion zu verfallen. Ernaux selbst nennt ihre Texte „récits autobiographiques“; sie versteht sich als „Ethnologin ihrer selbst“ und bettet jede individuelle Erfahrung in gesellschaftliche Machtverhältnisse ein. Weitere Themen sind die Herausforderung, ungarische Leser:innen für ein scheinbar „französisches“ Projekt zu begeistern, die Rolle des Zufalls bei der Verlagsankauf-Entscheidung und die politische Rezeption in Frankreich (von Linken wie Rechten kritisch gesehen). Die Gastgeber:innen und Ágnes tauschen Leseerfahrungen und Empfehlungen aus, wobei sowohl die enge Verwandtschaft zu Édouard Louis und Didier Eribon als auch das Fehlen vergleichbarer ungarischer Gesellschaftsromane diskutiert wird. ### 1. Écriture plate – die bewusst „flache“ Sprache als Mittel gegen literarische Privilegien Orzóy Ágnes erklärt, Ernaux’ anscheinend simple Satzstrukturen seien „absichtlich gewählt, um jede Spur von Lyrismus, Metaphern und Emotionalität zu tilgen“. Zitat: „Es ist kein Mangel an Können, sondern eine Askese, weil sie glaubt, dass Schreiben ein Luxus ist, für den sie bußen muss.“ ### 2. Übersetzung als Balanceakt – zwischen Alltagssprache und soziologischem Code Die Übertragung ins Ungarische gelte als besonders schwierig, weil die nüchterne Syntax leicht wirke, „aber gerade darin die Spannung liegt“. Lektorin und Übersetzer:innen verzichteten weitgehend auf Fußnoten, um die lineare Lektüre nicht zu unterbrechen. ### 3. Kollektivität aus Scham – aus dem Privaten Gesellschaftsgeschichte schreiben Kernauffassung des Ernaux’schen Programms: „Sie bettet jede individuelle Erfahrung in die soziale Erfahrung ein.“ Das führe dazu, dass Leser:innen weltweit „sich in der eigenen Biografie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit Frankreich 1940-2000 ablesen“ könnten. ### 4. Politische Kontroverse – von links wie rechts umstritten In Frankreich gelte Ernaux als „absolut links“, sie unterstütze Jean-Luc Mélenchon und werde daher von konservativer Seite abgelehnt. Gleichzeitig kritisieren französische Feminist:innen etwa „Die einfache Leidenschaft“, weil darin eine Frau „sich vor einem Mann so erniedrigt“. ### 5. Markt und Glück – wie ein Buch zum Bestseller wird Die Verlagswahl falle „wie eine Lotterie“ aus. Der internationale Durchbruch habe erst durch den Nobelpreis 2022 stattgefunden, wobei „die meisten Kolleg:innen hierzulande nie von ihr gehört hatten, bevor sie den Preis bekam“. ### 6. Zukunft des Ernaux-Projekts – weitere Texte und ein „ungarisches Évek“ Neben der erst kürzlich erschienenen „Schande“ plane der Verlag weitere Frühwerke („La femme gelée“, 1974) sowie Tagebuchnotizen über die Alzheimer-Krankheit der Mutter. Man wünsche sich einmal ein ungarisches Äquivalent zum kollektiven Gedächtnis-Buch „Die Jahre“. ## Einordnung Die Sendung ist ein unterhaltsames, aber durchaus anspruchsvolles Literaturgespräch. Die Gesprächspartner:innen bleiben weitgehend deskriptiv, liefern aber genug Kontext, um Neueinsteiger:innen wie Ernaux-Kenner:innen anzusprechen. Besonders gelungen ist die Vermittlung der Spannung zwischen persönlicher Betroffenheit und gesellschaftlicher Analyse, die Ernaux’ Texte ausmacht. Kritisch anzumerken ist, dass weder die Sozial-, Geschlechter- noch die Kolonialforschung vorkommen; die Debatte bleibt auf Frankreich und Westeuropa beschränkt. Die Frage, warum vergleichbare Projekte in Ungarn fehlen, bleibt offen, suggeriert aber, dass einzig Frankreich das Terrain für derartige Ethnologien des Eigenen abgebe – eine leicht essentialistische Behauptung, die unhinterfragt stehen bleibt. Insgesamt bietet die Episode aber eine kluge, zugängliche Einführung in das Werk einer wichtigen Stimme der Gegenwartsliteratur. Hörempfehlung: Wer sich für zeitgenössische Frauenliteratur, frankophone Kultur oder das Spannungsfeld von Biographie und Gesellschaft interessiert, erhält hier fundierte Einstiegshilfen.