Der Deutschlandfunk-Podcast "Hintergrund" beleuchtet in der Folge "Chatkontrolle. Kinderschutz auf Kosten der Privatsphäre?" den jahrelangen Streit um eine EU-Verordnung zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder im Netz. Moderation: Anna Loll. Zu Wort kommen u. a. der dänische Justizminister Peter Hummelgaard, die Kinderschützerin Lea Peters (ECPAT), der Jurist und Ex-Piraten-Abgeordnete Patrick Breyer, der Kryptograf Cars Cremers, der europäische Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiorowski und die Unternehmenssprecherin Hannah Busakov (Tutanota). Kern ist der Vorschlag der dänischen EU-Ratspräsidentschaft, Messenger-Dienste dazu zu verpflichten, Bilder, Videos und Links bereits auf dem Gerät der Nutzer:innen auf illegale Inhalte zu scannen (Client-side Scanning), bevor sie verschlüsselt versendet werden. Befürworter sehen darin einen notwendigen Schritt gegen verbreitete Missbrauchsgrafiken; Kritiker warnen vor einer anlasslosen Massenüberwachung, der Schwächung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und einem Präzedenzfall für weitergehende Kontrollen. Deutschland enthielt sich zuletzt der Zustimmung, weshalb der Kompromiss vorerst gescheitert ist. ### 1. EU-weite Chatkontrolle als Pflicht statt freiwilliger Ausnahme Breyer erinnert, 2021 hätten große US-Konzerne "eigenmächtig und heimlich" Nachrichten auf Kinderpornografie gescannt; die EU erlaubte das vorläufig und will daraus nun eine dauerhafte Pflicht für alle Kommunikationsdienste machen. Die geplante Verordnung würde auch bislang sichere Anbieter wie Signal oder WhatsApp einbinden. ### 2. 60 % weltweit gemeldete Missbraufsbilder liegen auf EU-Servern Peters zitiert die Internet Watch Foundation: Über die Hälfte der bekannten Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder würden in der EU gehostet; in der Union würden pro Sekunde zwei entsprechende Bilder/Videos geteilt. Nur das Hellfeld umfasse in Deutschland bereits über 50.000 polizeilich erfasste Fälle. ### 3. Technik als Katz-und-Maus-Spiel: hohe Fehlerquoten und leichte Umgehbarkeit Cremers erklärt, selbst KI-gestützte Scanner erreichten bei neuen Bildern "extrem hohe" Fehlerraten; in der Forschung gebe es zahlreiche Arbeiten, wie sich solche Systeme umgehen ließen. Hash-basierte Scanning verfehle leicht veränderte Inhalte, wodurch Täter:innen auf nicht überwachte Kanäle ausweichen könnten. ### 4. Client-side Scanning würde Ende-zu-Ende-Verschlüsselung aushöhlen Cremers betont, entscheidend sei, dass Schlüssel nur Sender und Empfänger kennen. Scanne man vor der Verschlüsselung, entstehe eine "andere Interpretation"; für Breyer ist davon die Rede, "dass unsere privaten Smartphones … quasi zu einer Wanze pervertiert" würden, weil Spionage vor der "Brief-Umschlag-Phase" stattfände. ### 5. Drohende Ausweitung: Erst Kinderpornografie, dann Terror, Betrug und mehr Wiewiorowski, aufgewachsen im überwachten Volksrepublik-Polen, warnt, der Anwendungsbereich werde schrittweise erweitert: „Meist beginnt es mit den Verbrechen gegen Kinder, dann folgen Fälle von Terrorismus oder Betrug … dann geht es noch weiter.“ Sobald die Infrastruktur bestehe, sei ein Zurück kaum möglich. ### 6. EU-Unternehmen fürchten Standortverlust und Vertrauensbruch Busakov klagt, offiziell verlangte Schwachstellen würden Sicherheit untergraben; mehr als 40 europäische Firmen warnten in einem offenen Brief vor Image-Schäden und Wettbewerbsnachteilen. Signal kündigte an, Europa zu verlassen, falls die Regelung komme; Tutanota prüft Klage. ## Einordnung Die Sendung arbeitet professionell auf: Sie lässt alle relevanten Akteur:innen zu Wort, stellt Zahlen und technische Details vor und verdeutlicht das Grundrechtsdilemma zwischen Kinderschutz und Privatsphäre. Besonders gelungen ist die Trennung von normativer Ebene („Wie viel Überwachung darf es geben?“) und technischer Machbarkeit: Die Argumente für und wider Client-side Scanning werden sachlich gegenübergestellt, ohne ein Lager eindeutig zu bevorzugen. Kritisch bleibt, dass die Frage richterlicher Vorkontrolle von Scan-Beschlüssen nur kurz gestreift wird; ebenso hätten die Moderator:innen stärker herausarbeiten können, warum gerade Dänemark den Vorschlag vorantreibt (z. B. innenpolitische Erwartungen). Die Perspektive potenziell Betroffener – etwa Betroffener von sexualisierter Gewalt, die auf vertrauliche Kommunikation angewiesen sind – fehlt ebenfalls. Dennoch: Das Format bietet eine klare, faktenorientierte Orientierung in einem hochkomplexen EU-Verfahren und macht ohne erhobenen Zeigefinder auf die Gefahren einer anlasslosen Massenüberwachung aufmerksam. Die Folge lohnt sich für alle, die verstehen wollen, warum der Streit um die Chatkontrolle weit über Kinderschutz hinausweist und grundlegende Fragen digitaler Grundrechte berührt.