Der Deutschlandfunk-Podcast „Hintergrund“ rekonstruiert in 18 Minuten, wie die designierte Verfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf im Sommer 2025 durch ein Netz aus AfD-nahen Kanälen, rechtskonservativen Kampagnenorganisationen und alternativen Medien wie „News“ und „CitizenGo“ diskreditiert wurde. Zentrales Ergebnis: zwei Drittel der 100 einflussreichsten Akteure auf X gehörten der AfD oder ihrem Umfeld an; gleichzeitig griffen etablierte Unionspolitiker:innen Teile der Desinformation auf und verweigerten der Kandidatin die Gefolgschaft. Die Sendung zeigt, wie gezielt Falschmeldungen (etwa „Abtreibung bis zur Geburt“) verbreitet, gezielt Petitionen gestartet und KI-generierte Videos eingesetzt wurden, um Druck auf CDU/CSU-Abgeordnete auszuüben. Es fehlt eine differenzierte Gegenrede aus der Union; stattdessen wird die strategische Nutzung von Merz-Kurzclips durch die AfD als eigener Fehler eingeräumt. Die Macher:innen fordern bessere Social-Media-Beobachtung, Transparenz für Kampagnen-Finanziers und mehr Medienkompetenz in der Politik. ### 1. Koordinierte Desinformation statt „klassischer“ Steuerung Die Analyst:innen fanden keine zentrale Steuerung, erkennen aber eine „eingespielte Szene“: Akteure greifen sich gegenseitige Inhalte auf, verstärken sie durch Petitionen, bezahlte Ads und KI-Clips. „Das ist einstudiert. Das ist auch nicht, da muss niemand irgendjemand anrufen“ (Philip Sehlhoff, Polisphere). ### 2. Schwangerschaftsabbruch als Mobilisierungsmotor Der strafrechtliche Status des Schwangerschaftsabbruchs („straffrei, aber rechtswidrig“) wurde zur Leitdifferenz: Sobald Akteure merkten, dass Brosius-Gersdorf eine Legalisierung in der Frühphase befürwortet, wurde daraus medial die Behauptung, sie wolle „Abtreibung bis zur Geburt erlauben“. Dieses Narrativ erreichte laut Studie die größte Reichweite und mobilisierte traditionell konservative Christdemokrat:innen. ### 3. Parlamentarische Mehrheiten per Mail-Flut erpressen Die Organisation 1000+ rief dazu auf, Unionsabgeordnete persönlich anzuschreiben; 38 000 Menschen folgten. Mehrere CDU/CSU-Abgeordnete nannten diese Mails „kriegsentscheidend“ (Lukas Steinwanter, Corrigenda). Die namentlich dokumentierte „Bürgerwillens-Illusion“ verstärkte innerparteiliche Skepsis. ### 4. Große Kampagnenplattformen operieren fast regulatorium-frei CitizenGo sammelte fast 150 000 Unterschriften, obwohl LobbyControl Hinweise auf mögliche Finanzierung durch einen „Putin-nahen russischen Oligarchen“ hat. Christina Deckwert bemängelt: Für klassische Lobby-Akteure gibt es Transparenzregeln; für internationale Petitions- und Kampagnenportale fehlen sie. ### 5. Alternative Medien etablieren sich als Meinungsmacher Das von CDU-Nähe Frank Gotthardt finanzierte Portal „News“ erzielte laut Analyse große Reichweite innerhalb der Zielgruppe. Julian Reichelt beschrieb dies im Interview als „neue Medienrealität“ ohne „Zugangskontrolle zum Narrativ“. Kritiker:innen sprechen von „rechten Hetzplattformen“, deren Finanziers über große Parteispenden wieder Einfluss erhalten. ### 6. Politische Kurzclips als Munition für Gegner Der bewusst knappe Ausschnitt der Antwort von Friedrich Merz („Können Sie mit Ihrem Gewissen vereinbaren, diese Frau zu wählen?“ – „Ja“) wurde von der AfD als 9-Sekunden-Clip auf TikTok und X verbreitet. Kommunikationsberater Johannes Hilje kritisiert, dass Merz diesen „pointierten“ Ton produziert habe, obwohl Profis wissen müssten, dass daraus leicht Falschzusammenschnitte entstünden. ## Einordnung Die Sendung arbeitet klassisch recherchiert, lässt alle relevanten Akteur:innen zu Wort kommen und vermeidet selbst Werturteile zur Sache Abtreibung. Besonders gelungen: die nüchterne Trennung zwischen organisierter Kampagne und individueller politischer Meinungsäußerung. Stärker hervortreten könnte, wie sehr sich etablierte Parteien durch die Angst, „unwählbar“ zu wirken, reaktiv an Leitbilder der Gegenseite annähern – etwa indem Teile der Union intern erwogen, Brosius-Gersdorfs Aussagen seien „für Lebensschutz nicht mehrheitsfähig“. Gleichwohl liefert „Hintergrund“ eine lehrreiche Momentaufnahme: Wenn parlamentarische Fraktionen digitale Öffentlichkeit nur sporadisch beobachten, übernehmen externe Kampagnennetzwerke die Deutungshoheit. Die Expert:innen fordern einen „Social-Media-Spiegel“ für Politik und Journalismus – ein Appell, der angesichts der gezeigten Geschwindigkeit von Falschnarrativen aufhorchen lässt. Insgesamt eine aufklärende, journalistisch solid produzierte Folge, die ohne erhobenen Zeigefinger konkrete Schwächen der demokratischen Aufmerksamkeitsökonomie benennt.