FALTER Radio: 1933 – Wie leicht kann man die Demokratie abschaffen? - #1440

Zwei Historiker:innen zeigen, wie Wirtschaftskrise, autoritäre Notverordnungen und politisches Zögern 1933 in Deutschland und Österreich die Demokratie binnen Monaten abschafften.

FALTER Radio
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Der FALTER-Historische Salon beleuchtet mit Wolfgang Maderthaner und Peter Lachnit, wie Demokratien 1933 in Deutschland und Österreich binnen weniger Monate abgeschafft wurden. Die Historiker:innen rekonstruieren die wirtschaftliche Not (6 Mio. Arbeitslose in Deutschland, 26 % in Österreich), die autoritären Präsidialkabinette seit 1930 und die „Selbstausschaltung“ des österreichischen Parlaments durch Dollfuß. Sie zeigen, wie Notverordnungen, Pressezensur, Finanzblockaden gegen Wien und das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917 systematisch eingesetzt wurden. Die Sozialdemokratie zauderte, ein Generalstreik blieb aus, und 14 Monate nach Neujahr 1933 war der Austrofaschismus vollendet. ### 1. Die parlamentarische Demokratie sei bereits vor 1933 geschwächt worden Die Weimarer Verfassung habe mit § 48 ein „Todesurteil“ für sich selbst geschrieben, indem sie dem Reichspräsidenten erlaubte, gegen das Parlament zu regieren. In Österreich habe man das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917 „ausgegraben“, um verfassungswidrig zu regieren. ### 2. Die Wirtschaftskrise habe die Legitimität demokratischer Institutionen zerstört Mit 6 Millionen Arbeitslosen in Deutschland und 557.000 in Österreich sei der „Gesellschaftsvertrag der Aufklärung“ zusammengebrochen. Parlamente würden als blockiert wahrgenommen, autoritäre Lösungen plausibel. ### 3. Die Machtübernahme sei kein plötzlicher Putsch, sondern ein Prozess Hitlers Ernennung zum Reichskanzler sei „Spitze einer längeren Entwicklung“ gewesen. In Österreich habe die Regierung das Parlament durch ein „verfahrensrechtliches Problem“ lahmgelegt, dann mit Polizeigewalt verhindert, dass es je wieder tagte. ### 4. Die Sozialdemokratie habe entscheidende Fehler gemacht Otto Bauer habe den Generalstreik abgelehnt, weil Arbeitslose „nicht streiken können“. Die Partei habe sich selbst beruhigt („die Kraft bleibt“), während die Regierung Republikanischen Schutzbund, KPÖ und Freidenkerbund verbot. ### 5. Wien sei gezielt finanziell ruiniert worden Durch Notverordnungen verlor die Stadt 37 % ihrer Ertragsanteile und musste 36 Mio. Schilling Strafe zahlen – bei einem Gesamtetat von 400 Mio. Der FALTER spricht von „planmäßiger und nachhaltiger Destabilisierung“. ### 6. Die Geschichtsschreibung müsse 1933 als eigentlichen Einschnitt anerkennen Nicht 1934 (Bürgerkrieg), sondern bereits März 1933 sei mit „kalten Staatsstreichen“ und „offenen Verfassungsbrüchen“ die Diktatur installiert worden. ## Einordnung Die Episode zeigt ein professionelles Geschichtsformat, das akribisch Quellen auswertet und komplexe Prozesse nachzeichnet. Maderthaner und Lachnit vermeiden simple Putsch-Narrative, betonen stattdessen strukturelle Schwächen (§ 48 Weimarer Reichsverfassung, kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz) und die Rolle wirtschaftlicher Verelendung. Besonders bemerkenswert ist die klare Benennung von Verfassungsbrüchen und die Kritik an der Sozialdemokratie, ohne diese zu verteufeln – die Perspektive der Betroffenen (Arbeitslose, politisch Verfolgte) bleibt präsent. Die Verbindung zur Gegenwart („Umbrüche im heutigen Amerika“) wird nur in der Einleitung angerissen, nicht ausgespielt – ein kluger Verzicht auf billige Parallelen. Die Aufarbeitung ist nüchtern, aber nie trocken; sie vermittelt die Dramatik des historischen Moments ohne Effekthascherei. Für alle, die zeithistorische Zusammenhänge jenseits oberflächlicher Schulbuchgeschichten verstehen wollen, lohnt sich der Hörgenuss – mit dem bitteren Nachgeschmack, wie schnell demokratische Errungenschaften preisgegeben werden können.