Kontext: "L'Esprit public" ist eine französische Radio-France-Kultur-Talksendung, die seit 30 Jahren wöchentlich nationale und internationale Politik mit Expert:innen diskutiert. Gastgeberin ist Astrid de Villaine. Hauptsprecher:innen: Bertrand Badie (Politikwissenschaftler, Sciences Po), Sylvie Kauffmann (Le-Monde-Chefredakteurin), Vera Grantseva (Russland-Expertin, Sciences Po), Manon Loizeau (Dokumentarfilmerin, „Polyc – Stimmen gegen das Kremlin“). Hauptthema: Russische Drohnen-Einbrüche in NATO-Luft­räume, Putins Strategie, westliche Reaktionen und der Zustand des inneren Widerstands in Russland. ### 1. Drohnen-Einbrüche als gezielte Machtdemonstration Badie wertet die Vorfälle in Polen, Rumänien und Estland nicht als Irrtümer, sondern als „Botschaft der Stärke“: „Regardez ce que je peux faire quand je suis énervé.“ Die wiederholten Verstöße zeigten Lücken in der europäischen Sicherheitsarchitektur. ### 2. NATO-Dissuasion funktioniert nur noch begrenzt Kauffmann konstatiert, dass klassische Abschreckung versage: „Notre politique de dissuasion occidentale … ne dissuade plus du tout la Russie.“ Stattdessen würden die USA die Allianz spalten, indem sie Drohnenvorfälle als „error“ abtun. ### 3. Trump sieht Russland als Geschäftspartner, nicht als Bedrohung Die Expert:innen einig: Trump ist an einem „partenariat avec la Russie“ interessiert, nicht an der Ukraine. Badie nennt das neue US-Modell „autocentré“: Monroe-Doktrin plus Führungsanspruch ohne europäische Lasten. ### 4. Innerer Widerstand lebt trotz Repression Loizeaus Film „Polyc“ zeigt 20 000 Festnahmen, hunderte politische Prozesse und 14-jährige Gefangene. Grantseva betont: „Il y a des Russes qui continuent à résister.“ Selbst blau-gelbe Nagellack könne Haft bedeuten. ### 5. Exil ist keine Lösung – Stimmen aus dem Ausland bleiben wichtig Russische Exilierte würden von Moskau delegitimiert, erreichen laut Grantseva aber weiter 80 % der heimischen Bevölkerung über YouTube oder VPN. Ihre Schilderungen einer alternativen Russland-Erzählung seien daher systemrelevant. ### 6. Putins Grenze: „jusqu’où on va le permettre d’aller“ Grantseva sieht die Schwelle nicht in Putins Rationalität, sondern im Widerstand der russischen Gesellschaft und in einem klaren „non“ Europas. Die Antwort auf „jusqu’où?“ laute: „Il ira jusqu’à ce qu’on dise non.“ ## Einordnung Die Sendung arbeitet journalistisch seriös: Faktenchecks, multiple Perspektiven, klare Trennung zwischen Bericht und Kommentar. Keine Verschwörungsmythen, keine Relativierung des Angriffskriegs. Besonders wirksam: die Verbindung von außenpolitischer Analyse mit Menschenrechtsbericht. Die Expert:innen entlarven Putins Drohnen-Manöver als asymmetrische Kriegsführung und zeigen, dass klassische Abschreckung ohne US-Rückendeckung bröckelt. Der Beitrag der Filmemacherin konkretisiert das Thema: politische Verfolgung als Alltag, Widerstand als Zivilcourage. Kritisch bleibt die Frage, warum europäische Reaktionen – trotz gemeinsamer Stimme – militärisch und technologisch (etwa beim Drohnen-Abwehrwall) so verzögert erfolgen. Die Diskussion verzichtet auf Alarmismus, betont aber: Ohne klare rote Linien und ohne Unterstützung des russischen zivilen Widerstands werde Putin weitermachen – bis „Europa non“ sagt. Eine Stunde, die anschaulich macht, wie brisant die Sicherheitslage ist, ohne in Apokalypse zu verfallen.