Der Theoriepodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung widmet sich in dieser Folge Herbert Marcuses 1972 erschienenem Werk „Konterrevolution und Revolte“. Alex Demirović, Professor für Politikwissenschaft und Vertreter der kritischen Theorie, führt durch die zentralen Thesen des Buches und diskutiert diese mit Peter Erwin Jansen, langjähriger Herausgeber der Marcuse-Nachlasspublikationen. Marcuse beschreibt darin, wie westliche Staaten nach den Protesten von 1968 mit einer „präventiven Konterrevolution“ reagierten: Die Integration der Arbeiterklasse über Konsum und Sozialstaat, zunehmende Repression sowie die Militarisierung der Polizei stabilisierten das kapitalistische System. Gleichzeitig entstehe neues revolutionäres Potenzial in gesellschaftlichen Randgruppen – Studierenden, Betroffenen von Rassismus, Frauen, ökologischen Bewegungen. Marcuse fragt, wie in einer durch Konsumzwang geprägten Gesellschaft überhaupt emanzipatorisches Begehren entstehen kann und ob die „Revolte“ über bloße kulturelle Störgeräusche hinausgeht. Im Gespräch wird die Aktualität dieser Analysen für heutige Debatten über Faschismus, Globalisierung, Konsumkritik und ökologische Krise betont. Diskutiert wird auch, wie sich Theorie und Praxis unter veränderten Klassenverhältnissen vermitteln lassen, wo doch klassische Arbeiteridentitäten an Bedeutung verlieren. Die beiden streiten darüber, ob heute „klassenlose“ prekäre Gruppen oder doch noch ein erweitertes Klassenverständnis politisch wirksam werden kann. Sie sind sich einig, dass Marcuses kulturrevolutionäre Perspektive – die Verbindung von Naturverhältnis, Sinnlichkeit, Ästhetik und Politik – für eine zeitgemäße Linke fruchtbar bleibt, auch wenn die konkrete Organisationsfrage offen bleibt. ### Die „präventive Konterrevolution“ konservativer Krisenmanagement Marcuse zeichnet eine Entwicklung nach, in der noch bevor eine Revolution ausbrechen kann, Repression und Konsumintegration wirken. Die Polizei erschießt Studenten, während Eltern öffentlich Säuberungsrufen zustimmen. Die Folge sei ein „Protofaschismus“, der sich durch demokratische Verfahren legitimieren könne. ### Konsum als Erziehung zur Konformität Die Arbeiterklasse werde über Konsumbedürfnisse in das System eingebunden. Die „beschränkte Vorstellung von Bedürfnissen“ – die Wahl zwischen Autosorten – ersetze Klassenbewusstsein. Die „konterrevolutionäre Bedürfnisstruktur“ wirke tief in die Subjekte hinein, sodass Unzufriedenheit kanalisiert, aber nicht auf Systemfragen richte. ### Neue soziale Fraktionen als Hoffnungsträger Für Marcuse bilden Studierende, Betroffene von Rassismus, Frauen und ökologische Aktivist:innen ein „Revolutionspotential“. Sie verstehen sich nicht als Arbeiterklasse, aber leiden unter „obszöner Symbiose der Gegensätze“ (z. B. Urlaubsort gleichzeitig Schauplatz von Militärgewalt). Aus dieser Erfahrung erwachse das „vitale Bedürfnis nach einer völligen Umgestaltung“. ### Kulturrevolution als ästhetische Praxis Marcuse fordert eine „qualitative andere Totalität“, wobei Kunst und Sinnlichkeit Vorbildfunktion übernehmen: Kunst zeigt, wie Welt „schön“ gestaltet werden könne, wenn Entfremdung überwunden ist. Kulturrevolution bedeute, Alltagspraxis und ästhetische Gestaltung zu verschränken – statt Natur als Ressource auszubeuten, entsteht ein „erotisches“ Verhältnis zur Welt. ### Theorie-Praxis-Dilemma der Universität Die neuen linken Intellektuellen klammerten sich oft an „masochistische Selbstenthauptung“: reine Theorie ohne soziale Verankerung. Umgekehrt bleibe Praxis blass, wenn sie auf Universitäten verharre. Marcuse plädiert für eine „Dialektik von Theorie und Praxis“: Erkenntnisse über kapitalistische Verwertungszwänge müssen in Bewegungen hinein wirken, statt in akademischem Elfenbeinturm zu verharren. ### Internationalisierung der Ausbeutung Die Konterrevolution funktioniere global: In Metropolen werde durch Konsum integriert, während Produktion und Verelendung in den globalen Süden verlagert werden. Hoffnung setzt Marcuse in internationale Solidarität – etwa wenn Communities in Kalifornien sich gegen Abschiebungspläne wehren oder wenn ökologische Bewegungen Produktionsketten unterbrechen. ## Einordnung Der Podcast bietet keine oberflächliche Book-Review, sondern eine fundierte Auseinandersetzung mit einem Schlüsseltext der Kritischen Theorie. Demirović und Jansen gelingt es, Marcuses komplexe Überlegungen – von Triebstrukturen bis zur Ästhetik – verständlich und in spannende Beziehung zur Gegenwart zu setzen (Trump, Klimakrise, Universitätsproteste). Besonders wertvoll ist die Selbstreflexion linker Widersprüche: Sie zeigen die Aporien auf, ohne sich in Nostalgie oder Aktivismus-Klischees zu flüchten. Kritisch bleibt, dass die Frage nach organisierter Macht und Strategie letztlich offen bleibt: Wie aus „isolierten radikalen Gruppen“ ein subjektiver Faktor wird, der über milieuspezifische Revolte hinausdringt, vermag auch der intelligente Austausch nicht abschließend zu beantworten. Die Folge ist somit keine einfache Reklame für Marcuse, sondern eine anregende Debatte darüber, wie Theorie heute politische Praxis informieren kann, ohne sich in akademischem Selbstzweck zu verlieren. Hörempfehlung: Wer sich für kritische Gesellschaftstheorie, Geschichte der Neuen Linken oder gegenwartsnahe Kapitalismuskritik interessiert, erhält hier einen anspruchsvollen, aber verständlichen Einstieg.