FALTER Radio: Filmer Avi Mograbi über Israel als Besatzungsmacht - #1494
Ein Gespräch über Israels Besatzungspolitik, militärische Zeug:innenberichte und die Frage, wie man Kritik von Antisemitismus trennt.
FALTER Radio
28 min read2017 min audioIm Kontext der Viennale 2025 spricht die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann mit dem israelischen Dokumentarfilmer Avi Mograbi über dessen Film "The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation". Das Gespräch findet auf Englisch statt und wird im Anschluss im Falter-Radio vom Moderator Raimund Löw kommentiert. Mograbi ist Mitbegründer der Organisation "Breaking the Silence", in der ehemalige israelische Soldat:innen über ihre Erfahrungen in den besetzten palästinensischen Gebieten sprechen.
### 1. Fiktives Handbuch als Mittel der Systemkritik
Mograbi nutze die Figur eines "teuflischen Professors", der ein Handbuch zur militärischen Besatzung geschrieben habe, um das System der israelischen Okkupation zu entlarven. Diese narrative Strategie ermögliche es, die Besatzung nicht als Folge einzelner Schicksale, sondern als strukturelles und geplantes Vorgehen zu analysieren. Wie Mograbi betone: „The whole idea of the state of Israel as a Jewish state means that it's about Jewish dominance between the river and the sea.“
### 2. Archivierte Zeug:innenberichte als historisches Dokument
Seit 2004 habe die Organisation Breaking the Silence über 2.000 Interviews mit ehemaligen Soldat:innen gesammelt, in denen diese über „unschöne, unehrenhafte und auch illegale Erfahrungen“ berichten. Diese Zeug:innenberichte seien ein zentrales Element des Films und bieten eine seltene Innenansicht der Besatzungsrealität. Beckermann hebe hervor, dass es in Israel „etwas ganz Besonderes“ sei, dass es eine solche Organisation gebe.
### 3. Demographische Kontrolle als politische Strategie
Mograbi argumentiere, die israelische Politik ziele darauf ab, eine palästinensische Mehrheit zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan zu verhindern. Die 5 Millionen Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten hätten dabei keine politischen Rechte und seien dadurch politisch „nicht existent“. Diese Ausschlusslogik sei konstitutiv für das Projekt eines jüdischen Staates.
### 4. Religiöse Siedler:innen als politische Macht
Die religiös-zionistische Bewegung habe sich seit 1967 von einer moderaten Kraft zu einer extremen Position gewandelt und präge heute maßgeblich die israelische Politik. Mograbi betone, dass nicht nur rechte, sondern auch Arbeiterregierungen an der Siedlungspolitik mitgewirkt hätten, obwohl diese nach internationalem Recht ein Kriegsverbildarstelle.
### 5. Pessimistische Bilanz der Friedensaussichten
Trotz des Waffenstillstands zeige sich Mograbi als „nicht optimistisch“. Der Konflikt sei „fragil“ und beide Seiten hätten den Waffenstillstand bereits mehrfach gebrochen. Die Hoffnung auf Frieden liege nicht bei den politischen Führungen, sondern möglicherweise bei externen Akteur:innen – etwa Geschäftsleuten, die an einer Stabilität interessiert seien.
## Einordnung
Der Podcast bietet eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit einem hochsensiblen Thema. Die journalistische Qualität liegt in der klaren Trennung zwischen Moderation, Einordnung und dem wörtlichen Gespräch. Besonders bemerkenswert ist die Reflexivität: Beckermann und Mograbi thematisieren nicht nur die Besatzungspolitik, sondern auch die Schwierigkeiten, über sie zu sprechen – etwa die Frage, warum es kaum weibliche Zeug:innenberichte gebe oder wie man Antisemitismus von Kritik an Israel trennen könne. Die Diskussionskultur ist geprägt von gegenseitiger Achtung und der Bereitschaft, auch widersprüchliche Positionen zuzulassen. Mograbi etwa betont, dass seine Ablehnung der Okkupation nicht mit „automatischer“ Unterstützung für palästinensische Positionen gleichzusetzen sei. Der Podcast zeigt, wie schwierig – aber möglich – es ist, über den Nahostkonflikt zu sprechen, ohne in Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. Die Einordnung durch Löw am Ende – die Überschneidung von Kultur und Politik sei beim Falter Programm – unterstreiche, dass dies keine rein politische Debatte, sondern auch eine kulturelle ist. Einziger Schwachpunkt: Die Perspektive palästinensischer Stimmen bleibt ausgespart, was angesichts der Thematik bedauerlich, aber angesichts des Gesprächsformats mit Mograbi nachvollziehbar ist.
Hörempfehlung: Wer eine analytische, persönliche und zugleich politisch scharfsinnige Auseinandersetzung mit der israelischen Besatzungspolitik sucht, sollte sich dieses Gespräch anhören – es bietet seltene Einblicke in die Komplexität des Konflikts.