Hintergrund: LKW-Fahrer in der EU - Ausbeutung auf der Autobahn
Journalistische Recherche zeigt systematische Lohnausbeutung von Lkw-Fahrer:innen durch Kaskaden von Subunternehmen in der EU.
Hintergrund
22 min read1126 min audioDer Deutschlandfunk-Podcast „Hintergrund“ begibt sich auf die Autobahnraststätte Grafenhausen und beleuchtet das prekäre Leben von Lkw-Fahrer:innen in der EU. Kasper Dohmen spricht mit Fahrern aus Belarus und der Ukraine, die für litauische oder polnische Speditionen unterwegs sind, sowie mit Gewerkschafter:innen, Branchenvertreter:innen und Wissenschaftler:innen. Das zentrale Thema: Löhne von teils nur 30 Euro pro Tag, fehlende Hygienestandards und eine Kaskade von Subunternehmen, die die Ausbeutung systematisch nach unten weitergibt.
### 1. Mindestlohn wird oft nicht gezahlt oder systematisch vorbehalten
Lohnvorhaltungen seien „regelmäßig“ Realität, heißt es. Christian Weiß von der IG Metall berichtet, dass 2023 am Rande einer Veranstaltung 65 Fahrer „Wochenlang“ streikten und schließlich nur deshalb ihr Geld erhielten, „weil die Firmen, deren Waren sie gefahren hatten“, einsprangen. Die Spediteure selbst blieben offenbar unbehelligt.
### 2. Osteuropäische Tochterfirmen dienen als Lohndrück-Konstruktion
Große westliche Auftraggeber wie VW geben Transporte gern an osteuropäische Niederlassungen weiter. VW habe laut eigenen Angaben „nicht gewusst“, dass der polnische Subunternehmer Fahrer aus Simbabwe für 30 Euro/Tag einsetzte. Die slowakische Tochter wies die Vorwürfe zurück, VW sprach von „vertragswidrigem“ Vorgehen – ohne rechtliche Konsequenzen.
### 3. Sub-Sub-Subunternehmer: Eine „Kaskade der Arbeitsausbeutung“
Die Geografin Veronik Helwing Henschel erklärt, 30.000 deutsche Speditionen, davon 27.000 mit unter zehn Fahrzeugen, würden Aufträge bis zu fünf Mal weiterverkaufen. Am Ende stünden die Fahrer: „Das ist ganz klassisches Beispiel für so ein Unterbietungswettlauf.“
### 4. Fahrer aus Drittländern werden mit Kultur-Argumenten instrumentalisiert
Ein litauischer Kollege erzählt, Busladungen von Fahrern aus Kaschmir oder Nigeria würden kommen, „aber das Problem liegt in der Mentalität“. Von 100 blieben nur 40, weil sie sich „nicht umstellen“ könnten. Damit rechtfertigt sich vor Ort, warum man Menschen aus armen Regionen 60-80 Euro pro Tag verspricht – und sie danach noch weiter unter Druck setzt.
### 5. Sanitärinfrastruktur auf Parkplätzen ist mangelhaft bis existenzbedrohend
Die ukrainische Fahrerin Nadya Schta nennt nicht die Ladungsdiebe, sondern „die Hygiene“ als größte Belastung: „Viele Duschen auf den Parkplätzen entweder nicht funktionieren oder sogar kostenpflichtig sind.“ In den Niederlanden seien bewachte Plätze mit kostenlosen Sanitäranlagen Usus, in Deutschland bleibe sie auf 1-2 Euro Gebühr oder defekte Kabinen angewiesen.
### 6. Politische Antworten bleiben halbherzig und konterkarieren sich selbst
Union und SPD hatten sich im Koalitionsvertrag auf „kostenfreien Ausbau“ der WC-Infrastruktur verständigt – schwächen gleichzeitig das Lieferkettengesetz ab. Kontrollen seien rar, Branchen-Dialoge eingestellt. Verdi-Chef Frank Wernicke befürchtet, dass sich „der Missbrauch bestätigt“, weil die Gesetzeslage seit Februar 2024 „keine Handhabe“ mehr biete.
## Einordnung
Die Sendung arbeitet sich systematisch durch die Wertschöpfungskette und zeigt: Die Ausbeutung ist kein Einzelfall, sondern Programm. Besonders deutlich wird das Versagen der Politik: Während Bundesministerien Förderprogramme für Beratungsangebote ankündigen, bietet die parallele Abschwächung des Lieferkettengesetzes genau den Spielraum, der die Ausbeutung ermöglicht. Die Dokumentation gelingt ein seltener Blick auf die Täterrolle westlicher Konzerngiganten, die über Tochterfirmen in Osteuropa Lohnkosten drücken, ohne rechtlich haften zu müssen. Gleichzeitig bleibt sie in der Kritik an den Subunternehmen selbst fair: Es sind die Auftraggeber, die mit niedrigstem Preis-Bonus den Preisdruck erzeugen. Schade nur, dass weder Vertreter:innen großer Spediteure noch Politiker:innen direkt zu Wort kommen, die für die Richtlinien verantwortlich sind – ein kleiner Blind Spot. Insgesamt ein klar recherchierter, sachlich aufbereiteter Beitrag, der ohne erhobenen Zeigefinger die strukturelle Gewalt des Marktes offenlegt. Hörempfehlung für alle, die wissen wollen, warum der Online-Handel so billig ist.