sexy & bodenständig: Folge 136: Tabula rasa
Zwei Autor:innen ohne Plan: Wenn die Druckfahnen weg sind, bleibt das Post-Projekt-Loch – und die Frage, wie man sich selbst neue Genre erfindet.
sexy & bodenständig
53 min read3034 min audioTill Raether und Alena Schröder, beide Autor:innen mit gerade abgeschlossenen Manuskripten, philosophieren in dieser 136. Folge über das danach: Was schreibt man, wenn man nichts mehr schreiben muss? Zwischen Sonntags-Melancholie, Schnitzel-Bowl-Horror und der Suche nach einem neuen Genre („Crazy Crime“) entwickeln sie ein unterhaltsames wie berührendes Panorama schriftstellerischer Selbstzweifel. Dabei benennen sie präzise, warum Gegenwartsromane sie nackt, historische Stoffe zu lange brauchen und Liebesromane gefährlich sind. Besonders spannend: Sie fragen, ob Literatur nur Zeitvertreib sein darf oder „was Positives in die Welt“ tragen sollte – und wie viel Schmerz Kreativität eigentlich braucht. Der Ton bleibt locker-privat, aber die Themen sind groß: künstlerische Selbstausbeutung, Marktdruck, körperliche und gesellschaftliche Entgrenzung im Alter. Alena schwärmt von einer postmenopausalen Räuberbande, Till von einem Freundschaftsroman, den er nie zu Ende bringt. Am Ende steht eine gemeinsame Vision: im Wechsel zwei konkurrierende Senioren-Gangs, die sich gegen Jens Spahn verbünden – mehr Spaß geht nicht, mehr Utopie auch nicht.
### 1. Post-Projekt-Loch ist real
Alena beschreibt das „Postabgabeloch“, das entstehe, wenn nach Monaten der Adrenalinspitze plötzlich nichts mehr komme: „dieses irgendwie dieses es kommt fühlt sich tatsächlich ein bisschen an wie so ein Lebensabschnitt, dass der abgeschlossen ist“. Till bestätigt, dass er erstmals ohne Folgevertrag dastehe – beide spüren eine irritierende Leere statt Erleichterung.
### 2. Gegenwartsroman = nackte Haut
Ohne Krimi- oder Historien-Abfederung fühlt sich reine Gegenwart für Till „ein bisschen nackt und ungeschützt“ an. Alena fürchtet, ihre langsame Schreibtempo lasse „die Zeitläufte zu schnell darüber hinweg galoppieren“. Das führt zur paradoxen Situation, dass erst das Ausschlussverfahren (kein Krieg, keine Rückblenden, keine Aktualität) übriglässt – nämlich fast nichts.
### 3. „Nichts mehr, was weh tut“ – geht nicht
Tills Kollege hatte sich geschworen: „Ich mache nichts mehr, was weh tut.“ Beide erkennen, dass fast alles Schreiben irgendwo weh tut – Recherche, Exposition, Verliebtheitsszenen. Alena bringt das Muskelwachstum als Bild: „Man muss das Muskelversagen anstreben, damit da einfach irgendwie was passiert.“
### 4. Comedy ist riskanter als Horror
Gezielt Witziges zu schreiben, droht „total unkomisch und total krampfig“ zu werden. Die beiden fürchten das Kritiker-Label „self-indulgent“, liebäugeln aber mit genau diesem Freiraum: ein Buch „wo mir nichts weh tut“, wie Taylor Swift angeblich ein Album mache – mit dem Unterschied, dass Literaturkritik weniger Lachmuskeln testet.
### 5. Neue Genre-Mythen: Crazy Crime & Oma-Thriller
Alena erfindet „Crazy Crime“: postmenopausale Frauen, die „auf die Kacke hauen“ und nebenher Kriminalfälle lösen. Die Idee, spätberufene Racheengel zu schreiben, verbindet ihre Körperpolitik mit leichtem Plot – ein spannender Gegenentwurf zur Männer-Krimi-Industrie.
### 6. Autor:innen sind auch Arbeiter:innen
Am Ende bleibt das Bewusstsein: trotz aller Utopie bleibt die Miete ein Argument. Ob man sich für ein Projekt entscheidet, entscheidet nicht nur die künstlerische Vision, sondern auch „was der Verlag will“. Die Episode endet mit einem halbironischen Plan B: zwei Alters-Banden im Wechsel-Turnus gegen Jens Spahn – weil „es muss ja auch was rumkommen“.
## Einordnung
Der Podcast lebt von der Chemie zwischen zwei Profis, die sich gegenseitig die Angst vor dem leeren Blatt vorlesen. Die Gesprächsdynamik ist locker, aber nicht beliebig: Es geht um handwerkliche Probleme, Marktzwänge und die Frage, wie viel Risiko ein Lebensentwurf erträgt. Besonders wertvoll ist, dass hier nicht das einsame Genie zelebriert wird, sondern die soziale Situiertheit von Kreativarbeit – Honorare, Verträge, Rezensionsängste. Die beiden nutzen ihr Privileg (Zeit, Verlage, Vernetzung), um genau diese Privilegien zu hinterfragen. Kritisch: Die politischen Anspielungen (Neonazis in den 90ern, Abtreibungsdebatte) bleiben beiläufig; marginalisierte Stimmen fehlen ganz. Dafür gelingt eine seltene Balance zwischen Komik und Ernst: Ein Gespräch über „nichts“ wird so zum Gespräch über alles – Arbeit, Alter, Geschlecht, Kapitalismus. Wer die Lust am Scheitern teilt, bekommt hier eine unterhaltsame Masterclass.