POLITICO Berlin Playbook: Machthaber: Wolodymyr Selenskyj
Die POLITICO-Biografie über Selenskyj erzählt atmosphärisch dicht, bleibt aber auf seine Perspektive fixiert.
POLITICO Berlin Playbook
51 min read2633 min audioDer Politico-Podport „Berlin Playbook“ widmet sich in dieser Episode der Frage, wie der Komiker Wolodymyr Selenskyj zum Kriegspräsidenten wurde. Gordon Repinski rekonstruiert die Karriere des ukrainischen Staatschefs: von der KVN-Comedy-Truppe „Kvartal 95“ über die Fernsehserie „Diener des Volkes“ bis zum höchsten Amt des Landes. Nach dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2019 stößt Selenskyj auf ein fest verwurzeltes Oligarchen- und Korruptionssystem, scheitert mit Friedensplänen für den Donbass und gerät zwischen die Fronten des US-Innenwahlkampfs. Seit Februar 2022 steht er im Fokus des russischen Angriffskriegs und avanciert zur Symbolfigur des ukrainischen Widerstands. Die Episode zeichnet nach, wie Selenskyj mit medialer Raffinesse internationale Unterstützung mobilisiert, gleichzeitig aber mit Korruptionsskandalen, innerukrainischem Machtkampf und den Launen westlicher Partner kämpft. Die Erzählung endet mit dem aktuellen Blick auf seine sinkenden Umfragewerte und die Frage, ob er seine Nation in einen möglichen Friedensprozess führen kann.
### 1. Comedian als politische Marke
Die Serie „Diener des Volkes“ mache aus Selenskyj zuerst eine populäre Fernsehfigur; als echte Präsidentschaftskandidatur wird ernsthaft debattet, erkennen die Produzenten, dass „die von ihnen geschaffene Kunstfigur […] mächtiger geworden [sei] als jeder echte Politiker im Land“. Die Partei „Diener des Volkes“ wird schon Jahre vor der Wahl gegründet, „um zu verklären, dass jemand anders den populären Namen klaut“.
### 2. Anti-Eliten-Kampagne ohne Programm
Die reale Wahlkampagne sei „revolutionär“, weil sie auf klassische Programme und Großveranstaltungen verzichte; stattdessen entscheiden Follower online mit. Dabei werde die Grenze zwischen fiktivem Präsidenten Holoborodko und dem echten Kandidaten bewusst verschwommen gehalten: „Es gibt kaum klassische Wahlkampfveranstaltungen. Es gibt kein politisches Programm.“
### 3. System blockiert Reformen
Kaum im Amt treffe Selenskyj auf ein „undurchsichtiges Netzwerk aus superreichen Oligarchen“, die das Land tatsächlich lenkten. Reformvorhaben wie ein Entmachtungsgesetz für Oligarchen „kommen nur schleppend voran oder versanden in den Mühlen des Systems“; selbst frisch eingesetzte Mitstreiter würden Teil des korrupten Apparats.
### 4. Krieg als Bildmarke
Die Nacht des 24. Februar 2022 liefere die Zäsur: Die Weigerung, mit den Amerikanern zu fliehen („I need ammunition, not a ride“), begründe Selenskys Image als unbeugsamer Krieger. Fortan nutze er seine Medienkompetenz gezielt für kurze emotionale Videobotschaften und Reden vor ausländischen Parlamenten, um Waffenlieferungen zu mobilisieren.
### 5. Zwischen Befreiungsheld und Autoritarismusvorwurf
Mit fortdauerndem Krieg mehren sich Kritikpunkte: Korruptionsskandale im Rüstungsbereich, Entlassung des populären Generals Saluschnyj, Rücknahme eines umstrittenen Anti-Korruptionsgesetzes nach Massenprotesten. Seine Umfragewerte sinken von 74 % im Mai 2025 auf 58 %; viele Ukrainer:innen „werfen dem Präsidenten vor, er würde sein politisches Ego über das stellen, was militärisch notwendig ist“.
## Einordnung
Die Episode präsentiert sich als professionell recherchierte journalistische Biografie, die Fakten, Zitate und dramaturgische Erzählstränge geschickt verbindet. Besonders auffällig ist die klare Fokussierung auf Selenskyjs Person: Die Ukraine erscheint weitgehend als Projektionsfläche für seine Rollenwechsel, während strukturelle Gegebenheiten – westliche Waffenlieferpolitik, russische Kriegsplanung, globale Machtspiele – eher als Nebenbühne dienen. Durchgängig bleibt die Perspektive des Präsidenten zentriert; weder russische Stimmen noch ukrainische Kritiker:innen mit fundamental anderen Deutungen kommen ausführlich zu Wort. Die argumentative Strategie bedient sich wiederholender Helden-versus-Schurken-Motive (Putin als Zerrbild, Trump als Deal-Macher, korrupte Eliten als Schlangengrube), wodurch komplexe politische Konstellationen auf ein emotionales Gut-Böse-Schema reduziert werden. Insgesamt liefert Repinski eine mitreißende, aber eben auch einseitige Sicht auf die ukrainische Realität – wer eine nuancierte Analyse des Kriegsgeschehens oder der ukrainischen Gesellschaft jenseits des Präsidenten sucht, wird nur wenige alternative Perspektiven geboten.