Der isländische Kulturpodcast „Víðsjá“ behandelt in dieser Ausgabe drei künstlerische Projekte: eine Flamenco-Gitarrenaufführung des Vater-Sohn-Duos Símon H. Ívarsson und Ívar Símonarson, die Inszenierung der Kinderoper „Hans und Gretel“ durch die Kammeroper in Reykjavík sowie die Einzelausstellung „Skjálfti“ (deutsch: „Erdbeben“) des Künstlers Finnbogi Pétursson im Listasafn Árnesinga. Letztere verbindet seismische Daten des verstorbenen Schwiegervaters, eines Erdbebenforschers, mit einem großen Spiegel und einer roten Ascheurne zu einer meditativen Installation über Erinnerung, Geologie und spirituelle Dimensionen. ### 1. Flamenco als kultureller „Schmelztiegel“ Símon H. Ívarsson erzählt, dass sich Flamenco aus der Begegnung von drei verfolgten Völkern – Sinti und Roma, Mauren und Juden – in Andalusien nach der Reconquista formiert habe. Diese Mischung mache die Musik zu einer „Randkunst“, die lange nur für Touristen akzeptiert gewesen sei. Das Genre drücke Sehnsucht, Tod, Blut, Liebe und Schmerz aus – „nicht unähnlich dem Blues in den USA“. ### 2. Flamenco-Formen: 67 Rhythmen, jeder mit eigener „Sprache“ Ívar erklärt, dass es etwa 67 verschiedene Formen gebe. Jedes palo (Stil) habe eine eigene Aussage: Das Stickstoff-taktige Soleá gelte als das „älteste“ und spreche vom Tod, während Farruca eine nordspanische, fast ausschließlich von Männern getanzte Form sei, die zwischen rhythmischer Kraft und lyrischer Melodie wechsle. Die Unterschiede seien so groß, dass selbst Spanier sie kaum überblicken. ### 3. Gitarre als „Hauptinstrument“, doch Sänger dominieren live Obwohl die Gitarre als Soloinstrument weltweit bekannt sei, stehe in Andalusien Gesang und Tanz im Mittelpunkt; die Gitarre belege „nur den dritten Platz“. Die besondere Art, das Instrument zu schlagen und zu zupfen, mache für Ívar die Faszination aus: „Technik und Klang, die man in keiner anderen Gitarrenmusik findet.“ ### 4. Erdbeben-Meter schickt Daten ins Museum – Live-Klangskulptur Finnbogi hat einen Seismographen am Grab seines Schwiegervaters Ragnar Stefánsson im Norden Islands installiert. Die Bodenschwingungen steuern in Echtzeit Lautstärke und Puls eines 4 × 2 m großen Spiegels im Ausstellungsraum. Besucher seien ihre eigene Spiegelung, die sich mit den Erdwellen vermische – „ein Echtzeit-Porträt der Person, das durch Bewegungen um Ragnar herum entsteht“. ### 5. Asche des Verstorbenen als „politische“ rote Linie Die rote Asche in einer Urne stamme aus der Beisetigung Ragnars. Die Farbe greife dessen politische Haltung auf: Bei der Beerdigung habe die ganze Trauerversammlung die Faust erhoben. Finnbogi habe lange gezögert, „den physischen Teil“ des Menschen in die Kunst einzubinden, bis er sich auf ein Podest entschied, das die Urne wie eine Büste präsentiere. ## Einordnung Die Sendung arbeitet mit sanfter, aber effektiver Dramaturgie: Sie beginnt mit Musik, lässt Künstler selbst erzählen und überlässt ihnen viel Raum für persönliche Deutung. Die Interviewer:innen greifen kaum korrigierend ein, wodurch das Format mehr einem kulturanthropologischen Gespräch als einem klassischen Interview gleicht. Besonders auffällig ist die Konsequenz, mit der komplexe Themen – Kolonialgeschichte, Tod, spirituelle Dimensionen von Naturwissenschaft – durch konkrete Alltagsdetails vermittelt werden. So wird der „Skjálfti“ nicht als abstraktes Konzept, sondern als lebendige Schnittstelle zwischen Geologie, Familiengeschichte und Gegenwart erfahrbar. Die fehlende Expertise von außen stellt kein Manko dar, weil die Protagonisten ihre Welt mitreißend erklären. Die Episode zeigt, wie sehr Kultur in Island vernetzt ist: Ein Gitarrist berichtet von Madríder Meisterkursen, ein Bildhauer lässt Erdbeben live in einem Provinzmuseum mitwirken. Wer Island von seiner innovativen Kunstszene überzeugen will, findet hier einen einfühlsamen Einstieg.