Víðsjá: Algjörar skvísur, Vikuspá og Áður en hrafnarnir sækja okkur
Eine poetische Reise durch isländische Literatur, Lyrik und Kunst, die Sprache als Brücke zwischen Kulturen und Generationen feiert.
Víðsjá
48 min read3149 min audioVíðsjá vom 1. September 2025 widmet sich ganz der Frage, wie künstlerische Formen Sprache, Erinnerung und Identität vermitteln können. Die isländische Autorin Karítas Hrundar Pálsdóttir stellt ihre neue Sammlung "Vikuspá" vor: 86 Kurzgeschichten in einfacher Sprache, die nicht nur Isländisch-Lernenden, sondern auch Erwachsenen eine Brücke zwischen Lese- und Kulturkompetenz schlagen. Die Geschichten sind nach Wochentagen sortiert und spielen mit alten isländischen Volksglauben, etwa dass der Geburtstag über das spätere Berufschicksal entscheide. Karítas erklärt, sie habe die Texte bewusst für erwachsene Lernende geschrieben, um das oft gehörte "lies einfach Kinderbücher" zu überwinden. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der Lyriksammlung des norwegischen Dichters Knut Ødegård, übersetzt von Gerður Kristný: "Áður en hrafnarnir sækja okkur" (Bevor die Raben uns holen). Die Gedichte erzählen zärtlich und humorvoll vom Älterwerden, vom Erinnern und Vergessen, wobei Soffía Auður Birgisdóttir besonders die sparsamen, aber kraftvollen Bilder des Originals lobt. Schließlich führt die Sendung in die Ausstellung "Algjörar skvísur" (Absolute Tussis) in Hafnarborg. Kuratorinnen Jasa Baka und Petra Hjartardóttir erklären, sie wollten mit weiblichen Archetypen und dem Konzept "Süße" als Widerstand gegen ein von Kapitalismus und Patriarchat geprägtes Umfeld arbeiten. Die Werke spannen einen Bogen von Kjarval bis zu zeitgenössischen Künstlerinnen, die mit Textilien, Zeichnungen und animistischen Motiven die Kraft weiblicher Energie feiern.
### 1. Karítas’ Geschichten als kulturelle Landkarte
Karítas Hrundar Pálsdóttir nutze die Struktur der Wochentage, um 86 Miniaturen zu schreiben, die nicht nur Sprachniveaus A2–B2 bedienen, sondern auch isländische Geschichte, Gegenwart und Identität vermitteln: „Þetta er búið að vera mjög skemmtileg vegferð fyrir mig… ég lít á þessar sögur sem hvoru tveggja tól til þess að efla tungumálalæsi en ekki síður menningarlæsi fólks.“
### 2. Erwachsenenliteratur in Leichter Sprache als Lücke
Die Texte füllen eine Lücke zwischen kindgerechten Büchern und komplexer Literatur. Karítas wollte „brúa bilið á milli svona alveg grundvallar æfingatexta… og svo að lesa þá erfiðari texta seinna.“
### 3. Ødegårds Gedichte als poetische Chronik des Alterns
Knuts Ødegårds Lyrik zeigt das Älterwerden als zärtliches, komisches und existenzielles Abenteuer. Das berühmte Gedicht „mamma“ kontrastiert die schützende Hand der Mutter im Schnee von 1952 mit der hilflosen Gegenwart: „Ég get ekki leitt þig í gegnum snjóþingslin hér.“
### 4. „Süße“ als politisches Werkzeug
Die Kuratorinnen der Ausstellung „Algjörar skvísur“ definieren „Süße“ nicht als Eskapismus, sondern als Waffe gegen ein „masculine place“: „því meiri kapítalisma og feðraveldi… því meiri þörf fyrir sætleika.“
### 5. Dialog der Generationen im Museum
Indem sie zeitgenössische Künstlerinnen mit historischen Werken – etwa Kjarval und Hulda Vilhjálmsdóttir – paaren, eröffnen Baka und Hjartardóttir ein Gespräch „um á milli lífs og dauða“, das Kunst als lebendige, zeitlose Sprache versteht.
## Einordnung
Die Sendung arbeitet nicht mit klassischem Interview-Stil, sondern mit assoziativen Montagen: Französischer Chanson, Sprachlern-Apps und isländische Volksweisheiten fließen ebenso ein wie Lyrik und Kuratoren-Gespräche. Das Nicht-Isländische wird nicht übersetzt, sondern bleibt klanglich erfahrbar – eine stille Haltung, die Zuhörende mitnehmen lässt. Kritisch anzumerken ist, dass die Perspektive fast ausschließlich weiblich und west-nordisch bleibt; postkoloniale oder queere Stimmen fehlen. Die Moderatorinnen verzichten auf Wertungen, lassen aber auch kaum hinterfragende Gegenfragen zu. So wirkt das Format weniger als analytisches Feuilleton, sondern als sanfte Klangreise durch isländische Gegenwartskunst – informativ, aber nicht kontrovers. Die Annahme, „Süße“ sei per se subversiv, bleibt unausgegoren. Dennoch gelingt den Sprechenden eine feinfühlige Annäherung an Themen wie Sprache, Erinnerung und Geschlecht ohne belehrend zu werden.
Hörwarnung: Wer tiefgreifende Kritik oder globale Perspektiven erwartet, wird enttäuscht sein. Wer sich aber für eine poetische Einführung in isländische Kultur und weibliche Kunstschaffen interessiert, findet hier eine liebevoll produzierte Klangcollage.