Geschichten aus der Geschichte: GAG516: HB02 – Von der Warteschleife in den Tod & Mit dem Fahrrad in die Freiheit

Daniel Meßner und Richard Hemmer lesen zwei spannende Kapitel aus ihrem Buch – über gescheiterte Diplomatie und mutige Emanzipation.

Geschichten aus der Geschichte
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In dieser zweiten Hörbuchfolge präsentieren die Historiker Daniel Meßner und Richard Hemmer zwei ausgewählte Kapitel aus ihrem Buch. Richard liest Daniels Text über das diplomatische Desaster der ersten portugiesischen Gesandtschaft am Hof des chinesischen Kaisers Shang Di 1520/21. Die Mission unter Tome Pires scheitert an kulturellen Missverständnissen, Überheblichkeit und mangelnder Vorbereitung – und endet mit Hinrichtungen sowie jahrhundertelanger Isolation Chinas gegenüber europäischen Mächten. Daniel trägt anschließend Richards Geschichte über Annie Londonderry vor, eine jüdische Einwanderin, die 1894 eine waghalsige Weltreise auf dem Fahrrad unternimmt. Die Reise ist Teil PR-Gag, Teil feministisches Statement: Londonderry bricht mit Kleider- und Rollenbildern, finanziert sich durch Sponsoring und schafft es, als erste Frau mit dem Rad die Welt zu umrunden – wenn auch mit erheblichen kreativen Freiheiten. ### 1. Portugals erste Chinamission scheitert spektakulär Es gebe kaum eine diplomatische Mission, die so katastrophal verlaufen sei wie jene der Portugiesen 1520. Tome Pires werde zwar inoffiziell vom Kaiser empfangen, doch „politisch ist noch nichts gewonnen, denn das Treffen hat offiziell nie stattgefunden“. Nach Jahren des Wartens und mehreren Fehltritten werde die Gesandtschaft als Piraten beschimpft, inhaftiert und schließlich hingerichtet – ohne jemals eine offizielle Audienz erhalten zu haben. ### 2. China behält die Oberhand – für 300 Jahre Die chinesische Führung entscheide sich gegen Handelsstützpunkte und militärische Zugeständnisse. „China muss sich im ersten und zweiten Opiumkrieg […] den Bedingungen der europäischen Großmächte beugen“ – doch bis dahin bleibe das Reich geschlossen. Die Episode zeige, dass europäische Expansion lange nicht alternativlos gewesen sei. ### 3. Annie Londonderry erfindet sich neu Anna Kopchovsky, Mutter dreier Kinder, erfinde sich als „Annie Londonderry“ neu, um eine Weltreite auf dem Rad zu unternehmen. Die angebliche Wette zweier Bostoner Geschäftsleute sei vermutlich frei erfunden – „es ist sehr wahrscheinlich, dass diese beiden Geschäftsleute nie existierten“. ### 4. Fahrrad als feministisches Befreiungsmittel Das Fahrrad werde zur Ikone der „New Woman“. Londonderry trage Männerkleidung, lehne Korsetts ab und fordert praktische Kleidung für Frauen. „Nicht nur sollten Frauen Rad fahren, sondern sie sollten auch keine schweren, sackartigen Hosen tragen.“ ### 5. Reisen zwischen Fakt und Fiktion Ein beträchtlicher Teil ihrer Reise scheine erfunden – Londonderry verbringe „die meiste Zeit auf dem Schiff“ und erfinde wilde Geschichten über Gefangenschaft in Japan oder Tigerjagd in Indien. Die Grenzen zwischen Selbstinszenierung und Realität verschwimmen. ### 6. Vergessen in der Heimat, gefeiert im Ausland Während internationale Presse ihre Leistung feiert, bleibe die US-Öffentlichkeit weitgehend unbeeindruckt. „Keine der großen Chicagoer Zeitungen berichtet über ihre Ankunft“ – ein Spiegel gesellschaftlicher Ambivalenz gegenüber emanzipierten Frauen. ## Einordnung Die Folge besticht durch ihre klare Struktur und die bewusste Entscheidung, zwei völlig unterschiedliche Geschichten nebeneinander zu stellen: ein politisches Scheitern und ein persönliches Aufbegehren. Die beiden Historiker:innen nutzen ihr Format geschickt, um komplexe Zusammenhänge – Kolonialgeschichte, Geschlechterrollen, Selbstinszenierung – zugänglich zu machen. Besonders bemerkenswert ist die Offenheit, mit der sie historische Unschärfen und Legendenbildung thematisieren. Die Episode bleibt dabei frei von problematischen oder rechten Inhalten – stattdessen wird kritisch hinterfragt, wie Geschichte erzählt und wessen Perspektiven fehlen. Die lockere, aber fundierte Gesprächsdynamik zwischen Meßner und Hemmer trägt erheblich zur Unterhaltung bei, ohne dabei oberflächlich zu wirken. Die Hörer:innen bekommen keine fertigen Antworten, sondern werden ermutigt, selbst weiterzudenken – eine gelungene Mischung aus Information und Reflexion. Hörempfehlung: Unbedingt anhören – wer Geschichte lebendig, kritisch und unterhaltsam mag, wird hier bestens bedient.