Carne Cruda ist ein unabhängiges spanisches Radio-Magazin, das hier knapp 60 Minuten lang das Thema „Ozempic und der globale Abnehmwahn“ aufbereitet. Javier Gallego „Crudo“ und Violeta Muñoz führen durch eine Mischung aus Expert:innen-Gesprächen, Musik und persönlichem Erleben. Im Zentrum steht die Frage, warum das Diabetes-Medikament Semaglutid (Markenname Ozempic/Wegovy) zum Kassenschlager wurde – obwohl es primär Menschen mit Essstörungen, Frauen unter gesellschaftlichem Schlankheitsdruck und Pharmakonzernen nützt. ### 1. Ozempic sei derselbe Wirkstoff, nur teurer verpackt Die Sendung zeigt, dass Ozempic, Wegovy und Rybelsus identische Semaglutid-Moleküle der Firma Novo Nordisk seien. Die unterschiedlichen Namen („Evergreening“) verlängerten Patente und verhinderten günstige Nachahmer, sodass eine 300-Euro-Woche-Dosis entstehe, die vor allem Wohlhabende bezahlen könnten. ### 2. Die Epidemiologie widerspreche der Individualschuld Epidemiologe Manuel Franco betont, Übergewicht sei seit den 1980er-Jahren strukturell gewachsen. Armut, Nachtarbeit und ein „obesogenes“ städtisches Umfeld würden mehr zur Gewichtszunahme beitragen als mangelnde Disziplin. Die „Eat-less-move-more“-Rhetorik verdecke diesen sozialen Determinantenansatz. ### 3. Die Medikalisierung verstärke Gordofobie und Essstörungen Aktivistin Magda Piñeiro erklärt, Ozempic-Werbung stelle dicke Körper erneut als „Fehler“ dar. Es drohe ärztlicher Zwang, Menschen mit normalem BMI würden Präparate zur Gewichtsreduktion verschrieben, was Restriktionszyklen und Depressionen fördere. Die Zahl der Mädchen mit Essstörungen habe seit 2020 um 30 % zugenommen. ### 4. Die Patentpolitik blockiere globale Zugänglichkeit Pharmapolitik-Expertin Belén Tarrafeta zeigt, Novo Nordisk habe Produktionslizenzen für preisgünstige Generika verweigert, obwohl Lieferengpässe bestehen. Länder wie Brasilien warten auf 2026, wenn die Hauptpatente auslaufen; internationale Zwangslizenzen kämen kaum zum Einsatz. ### 5. Nutzende berichten von Muskelabbau und Unsicherheit Die persönliche Geschichte von Concha (67) veranschaulicht: Nach 26 kg Gewichtsverlust durch Wegovy brachen ihr zwei Wirbel und das Handgelenk. Ärzt:innen wüssten nicht, wie lange sie spritzen solle; Muskelmasse und Knochenstabilität gingen zurück – ein Aspekt, der in Glamour-Posts fehle. ## Einordnung Carne Cruda praktiziert investigativen Lifestyle-Journalismus: Die Redaktion lässt Wissenschaftler:innen, Apotheker:innen, Betroffene und Aktivistinnen in längeren Passagen zu Wort kommen, statt Selbstzitate zu dominieren. Die Sendung arbeitet sich sachlich und unterhaltsam durch komplexe Zusammenhänge von Patentrecht, Public-Health-Politik und diskriminierenden Körpernormen. Besonders wirkungsvoll ist das Arrangement: Zwischen Expertise und persönlichem Schicksal bleibt kaum Raum für unreflektierte Werbung oder Esoterik. Die Macher:innen positionieren sich klar gegen Gewichtsstigmatisierung und für strukturelle Gesundheitspolitik. Kritisch bleibt, dass einzelne medizinische Detailfragen (z. B. Langzeitdaten zu Semaglutid) aufgrund des noch jungen Zulassungszeitraums zwangsläufig offen sind – hier hätten zusätzliche unabhängige Studiendaten helfen können. Insgesamt bietet die Episode eine facettenreiche, empathische und klare Kritik an der Kommerzialisierung von Körperbildern und Pharmaindustrie-Praktiken. Hörempfehlung: Unbedingt anhören, wer verstehen will, wie Patentstrategien und Schönheitsideale Gesundheitspolitik und Alltag beeinflussen.