ARD Presseclub: Putins hybrider Krieg: Wie bedroht sind wir?
Der WDR 5 Morgenecho zieht 20 Jahre nach 9/11 eine journalistische Bilanz – ohne afghanische Stimmen und ohne grundsätzliche Kritik an Militäreinsätzen.
ARD Presseclub
3417 min audioDer WDR 5 Morgenecho widmet sich zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 einer Runde mit vier Expert:innen: Florian Flade (Terrorismus/ARD), Marina Kormbaki (DER SPIEGEL), Christoph Schiltz (WELT) und Thomas Wiegold (Sicherheitsblogger). Die Diskussion konzentriert sich auf die langfristigen Folgen für Deutschland – von der umfassenden Sicherheitsgesetzgebung über den ersten NATO-Artikel-5-Fall bis zum militärischen und politischen Scheitern in Afghanistan. Dabei zeigt sich, dass Deutschland weder strategisch noch mental auf die danach notwendigen Auslandseinsätze vorbereitet war und bis heute keine abschließende Bilanz ziehen kann. Die Sendung wirft die Frage auf, ob die uneingeschränkte Solidarität mit den USA richtig war, obwohl der Einsatz in Afghanistan letztlich scheiterte.
### 1. Deutschland war vor 9/11 politisch blind gegenüber islamistischem Terrorismus
Florian Flade betont, dass der deutsche Staat das Thema „lange Zeit kein großes Thema“ fand; erst die Attentate machten deutlich, dass die Hamburger Zelle hier unbehelligt agierte. „Es war in der Innenpolitik, in der Gesellschaft kein wirklich großes Thema.“
### 2. Die Anschläge führten zur größten Sicherheitsarchitektur-Reform der Bundesrepublik
Kormbaki zufolge setzte eine „Zäsur“ ein: neue Anti-Terror-Gesetze, Datenvorrats-Speicher-Debatten, Geheimdienst-Reform und verstärkte Vernetzung aller Behörden. Die Folgen „gingen durch alle Institutionen und durch alle Gesetzgebungen“.
### 3. 9/11 prägte Deutschlands außenpolitische Identität stärker als die Wiedervereinigung
Christoph Schiltz nennt den Tag „viel mehr eine Zäsur“: erstmals fiel der NATO-Bündnisfall, Berlin erklärte „uneingeschränkte Solidarität“ und begann Auslandseinsätze „die bis dahin so nicht denkbar waren“.
### 4. Weder Politik noch Bundeswehr oder Gesellschaft waren auf Afghanistans Realität vorbereitet
Thomas Wiegold beschreibt eine „Umbruchsituation“: Die Truppe war auf Balkan-Peacekeeping fixiert, stattdessen musste man „Tausende von Kilometern entfernt … in ein Land gehen, das seit Jahrzehnten im Bürgerkrieg ist“. Die Folge: „sehr holprig“ gelaufene 20 Jahre.
### 5. Ein vollständiges Scheitern wird eingeräumt, eine abschließende Bilanz aber verweigert
Alle Gesprächsteilnehmenden sprechen von „politisch-militärischem Scheitern“, doch Kormbaki beklagt, dass dringende Lehren – etwa zum Schutz lokaler Helfer – schon vor dem Abzug bekannt, aber ignoriert wurden. Eine „tiefgehende Analyse“ stehe noch aus.
## Einordnung
Die Sendung zeigt klassische Stärken des ARD-Formats: schnelle Einordnung durch Fachjournalist:innen, stringent moderiert von Jörg Schönenborn. Die Runde bleibt auf Tagespolitik fokussiert, verzichtet aber auf zentrale Perspektiven: afghanische Stimmen, Zivil:innen- oder Menschenrechtsorganisationen fehlen völlig; der Blick bleibt eurozentriert. Die Protagonist:innen wiederholen den Konsens, dass der Krieg nicht gelungen sei, liefern aber keine strukturelle Kritik an westlicher Interventionspolitik. Die NATO-Logik wird als alternativlos präsentiert; Fragen nach völkerrechtswidrigen Drohneneinsätzen, Foltergefängnissen oder den langfristigen Kosten für afghanische Zivilbevölkerung werden ausgespart. Stattdessen dominiert die Selbstbefragung, ob Deutschland „mit sich im Reinen“ sei – ein Frame, der Machtverhältnisse und Verantwortung für Getroffene nachrangig behandelt. Insgesamt: solide journalistische Aufarbeitung, aber mit begrenztem Blickwinkel und ohne systemische Kritik an Militäreinsätzen im Anti-Terror-Kontext.