Derroteros #106 mit Sabina Urraca trägt den Titel „Die Kunst des Beleidigens“. Im Gespräch mit Moderatorin Violeta Muñoz reflektiert die kanarische Autorin und Kulturschaffende, warum Fluchen sie emotional entlaste, welche Macht in Schmähworten steckt und wie sehr Sprache durch Sexismus und Klassismus geprägt ist. Die Sendung versteht sich als Unterhaltungs- und Reflexionsformat innerhalb des crowdfinanzierten Magazins „Carne Cruda“. ### 1. Kraftwort statt Schmähwort: Beleidigungen als Ventil Urraca erzählt, dass sie viele „tacos“ (Schimpfworte) benutze, weil sie „die Wut, den Hass oder die Verzweiflung bündeln“. Octavio Paz zitierend nennt sie Kraftausdrücke „die Poesie, die jeder:innen zugänglich ist“. Das Fluchen wirke befreiend, fast therapeutisch – ein Spannungsausgleich, den sich auch Muñoz zugute halte. ### 2. Etymologie zwischen Fakt und Fiktion Amüsant ist Urracas Spiel mit erfundenen Wortherkünften. Beispiel: „insulto“ erfinde sie als mesopotamischen Begriff für „jemand, der noch nicht vor dem Sultan erschienen ist“. Die echte Herkunft – lateinisch „insultare“ (angreifen) – sei „viel weniger interessant“. Solche Etymologie-Tricks dienen ihr als Kreativitätstool und verdeutlichen, wie subjektiv Sprache sein kann. ### 3. „Defenestrar“: Geschichte eines Wurfgeschicks Beim Begriff „defenestrar“ (hinauswerfen) erzählt Urraca eine historische Episode: 1618 stürzten böhmische Adelige kaiserliche Gesandte aus Prager Fenstern – Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Sie nutzt die Anekdote, um aufzudecken, wie schnell Bildsprache zu politischem Vokabular wird und Gewalt durch Sprache verharmlost wird. ### 4. Klassismus und Sexismus im Wortschatz Viele spanische Schmähwörter seien tief klassistisch: „hortera“ (spießig) stamme von „huerta“ (Gemüsegarten) und diffamiere ländliche Lebensweise. Gleichzeitig zeige sich durchgängig Sexismus: Beleidigungen zielten oft auf Körperöffnungen („que te den por culo“) oder die Mutter („hijo de puta“), womit der männliche Sprecher Macht über weibliche Körper beanspruche. ### 5. Re-Appropriation: umdeuten stärkt Identität Urraca fordert, dass Betroffene Schmähungen wie „maricón“ oder „bollera“ zurückerobern dürfen, um „die Kontrolle über die eigene Identität“ zu gewinnen. Beispiele wie die „SlutWalks“ oder argentinisches „boludo“ illustrieren, wie durch „resemantización afectiva“ aus Schimpfen Solidarität wird – ein Akt des Empowern, aber nur innerhalb der Betroffenen-Community. ### 6. Poetische Beleidigungskultur: von Quevedo zu Lorca Abschließend schwärmt sie für literarische Schmähkunst: Quevedo und Góngora liefern sich metrische Duelle, Federico García Lorca liefert Bilder wie „espejo de tus tías“. Diese „repentismo“-Traditionen (kubanisches Punto, spanische Chirigotas) regelten Beleidigungen nach strengen Metrum-Regeln – ein „Tanz auf dem Papierrand“ zwischen Beleidigung und Respekt. ## Einordnung Die Folge ist kein klassisches Interview, sondern eine kurzweilige literarisch-philosophische Wanderung. Die lockere, beinahe verschworene Atmosphäre zwischen Muñoz und Urraca macht Beleidigungen zum spielerischen Stoff, ohne die gesellschaftliche Schärfung auszublenden. Besonders wirkungsvoll: Die Sprechende kombiniert persönliche Anekdoten mit sprachwissenschaftlichen Exkursen und zeigt, wie sehr Sprache Machtverhältnisse transportiert. Kritisch bleibt, dass trotz Fokus auf Sexismus keine weiblichen oder queeren Gäste zu Wort kommen; die Perspektive bleibt klar cis-feminin und auf Spanien fokussiert. Die Sendung beansprucht keinen journalistischen Anspruch, sondern versteht sich als Kultur-Feature – was sie mitreißend, aber eben auch unkontrovers macht. Wer Freude an Wortspielereien, queer-feministischer Linguistik und kanarischem Humor hat, findet hier unterhaltsame 40 Minuten; wer strukturierte Analyse oder diverse Perspektiven erwartet, könnte enttäuscht sein.