Die Medienversteher: Sensation!
Zwei erfahrene Journalist:innen diskutieren die Mechanismen, Methoden und ethischen Fallstricke des Boulevardjournalismus.
Die Medienversteher
45 min read2648 min audioDer Podcast "Die Medienversteher" mit Prof. Dr. Tanjev Schultz und Dr. Markus Wolsiffer widmet sich in dieser Folge dem Boulevardjournalismus. Schultz ist Journalismusforscher an der Uni Mainz, Wolsiffer arbeitet als TV-Reporter und Moderator für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das zentrale Thema: Was macht Boulevardjournalismus aus, wo liegen seine Stärken und wo seine Gefahren?
### 1 Boulevardjournalismus sei emotional, plakativ und massentauglich
Die beiden Gastgeber:innen beschreiben Boulevardjournalismus als Genre, das auf große Schlagzeilen, starke Emotionen und schnelle Verkäufe setze. Schultz erklärt: "Es ist zum einen sehr emotional, es ist vielleicht sensationalistisch, es ist sehr plakativ." Die ursprüngliche Idee sei gewesen, durch Straßenverkäufer:innen täglich neue Aufmerksamkeit zu generieren – ein Prinzip, das sich bis heute in digitalen Formaten fortsetze.
### 2 Die Grenzen zwischen Boulevard und Qualitätsjournalismus verschwimmen
Ein zentraler Punkt der Diskussion: Die Abgrenzung sei fließend. Wolsiffer und Schultz einigen sich darauf, dass auch seriöse Medien gelegentlich Boulevard-Elemente übernehmen – etwa durch reißerische Überschriften oder emotionalisierte Berichterstattung. Schultz spricht von einer "Boulevardisierung" aller Medien, bei der sich Formate wie Spiegel Online oder die taz zunehmend Elemente wie Personalisierung und Sensationsorientierung bedienen würden.
### 3 Skrupellose Methoden und Grenzverletzungen seien systemisch
Die beiden diskutieren offen problematische Praktiken: vom sogenannten "Witwen schütteln" – dem aggressiven Ausquetschen von Angehörigen nach Katastrophen – bis hin zur gezielten Rufmordkampagne, wie sie Heinrich Böll in "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" literarisch verarbeitet habe. Aktuelle Beispiele wie die Falschberichterstattung über die Polizistin Judy S. durch Bild und BZ zeigen: "Keine dieser Behauptungen war zutreffend."
### 4 Boulevard erreiche Menschen, die sonst keine Medien nutzen
Ein ambivalenter Vorzug: Wolsiffer argumentiert, Boulevardmedien schaffen es, gesellschaftlich relevante Themen auch an Menschen zu bringen, "die sich andernfalls nicht mit einigen Themen auseinandersetzen würden". Schultz relativiert dies jedoch: Der mögliche gesellschaftliche Nutzen werde oft durch einseitige Darstellungen und Übertreibungen konterkariert.
### 5 Die Rolle des Boulevardjournalismus im politischen Diskurs
Die beiden analysieren, wie Boulevardmedien gezielt politische Kampagnen fahren – etwa bei der Flüchtlingspolitik 2015 oder in der Causa Guttenberg. Dabei werde gezielt mit Emotionalisierung und Skandalisierung gearbeitet: "Wir sind Papst" sei zwar eine ikonische Schlagzeile, werde aber erkauft durch "unterkomplexe Darstellungen".
### 6 Ethik und Professionalität: Zwischen Verkäufer und Wächter
Ein zentraler Konflikt: Während sich Boulevardjournalist:innen oft als "mutige Aufklärer" verstehen, kritisiert Schultz, dass das Selbstbild nicht mit den Methoden übereinstimme. Die Typologie von Main und Riesmeier ordnet Boulevardjournalist:innen als "Verkäufer" ein – mit starker Publikumsorientierung und hoher Medienwirkungsvorstellung, aber weniger ethischem Anspruch.
## Einordnung
Die Folge zeigt zwei erfahrene Medienmacher:innen, die Boulevardjournalismus weder pauschal verdammen noch verharmlosen. Besonders bemerkenswert: Die Offenheit, mit der problematische Praktiken benannt werden – von der Falschberichterstattung bis zu rüden Methoden bei Trauerfällen. Gleichzeitig bleibt die Analyse stets auf der Metaebene: Es geht nicht darum, ob Boulevardjournalismus gut oder schlecht sei, sondern wie er funktioniert und welche diskursiven Effekte er entfaltet. Die fehlende Perspektive der Betroffenen und der Boulevardjournalist:innen selbst fällt jedoch auf – die Diskussion bleibt akademisch distanziert. Die beiden Gastgeber:innen positionieren sich klar auf Seiten einer ethisch fundierten, sorgfältigen Berichterstattung, ohne dabei elitär zu wirken. Die Folge eignet sich als fundierte Einführung in die Mechanismen des Boulevardjournalismus – mit klarem Blick auf dessen gesellschaftliche Rolle und systemische Probleme.
Hörwarnung: Wer eine kritische, aber faire Auseinandersetzung mit Boulevardjournalismus sucht, bekommt hier eine solide Analyse – ohne voyeuristische Details oder Verharmlosung problematischer Praktiken.