Kontext: "Le Masque et la Plume" ist Frankreichs traditionsreichste literarische Radiokritik; Rebecca Manzoni führt durch die Diskussion mehrerer aktueller französischer Romane mit vier namhaften Kritiker:innen (Philippe Trétiack, Élisabeth Philippe, Jean-Marc Proust, Patricia Martin). Hauptthema: Die Runde besprechend fünf Neuerscheinungen – darunter Anne Berests Familienepos "Finisterre", Javier Cercas’ theologisch-komische Papstreise "Le fou de Dieu au bout du monde", Laura Vazquez’ sprach-experimentelles „Les forces“, Cédric Sapin-Defours Trauerbuch „Où les étoiles tombent“ und Paul Gasniers Debüt „La collision“. ### Anne Berest schreibe zu viel Füllmaterial statt Vaterschafts-Trauer Élisabeth Philippe moniert, Berest habe das Schweigen ihrer Vorfahren mit „uninteressanten Anekdoten“ (z. B. „le vol d’une blouse“) gestopft, statt das eigentliche Thema – die zerrüttete Beziehung zum Vater – literarisch zu durchdringen. ### Kritiker:innen sehen in Cercas’ Papstreise Selbstzensur statt provokanter Theologie Philippe Trétiack bemängelt, Cercas suche eine „position molle“, um weder als päpstlicher „soldat“ noch als „bouffeur de curé“ zu erscheinen; das versprochene „scandaleux“ fehle. Jean-Marc Proust ergänzt, brisante Fragen (z. B. kirchliche Pädokriminalität) würden nur „d’une manière extrêmement discrète“ gestreift. ### Laura Vazquez überzeuge durch absurde Sekten und sprachliche Fraktale Die Runde feiert "Les forces" einhellig: Nach anfänglichem „capitalisme est partout“-Klagelied „bascule" der Text ins Komische (Sekten wie „l’absolue non-certitude“), wobei Vazquez laut Philippe Trétiack „des images … qui me hantent“ aus dem Alltag fraktal heraus vergrößere. ### Unterschiedliche Wahrnehmung von Autofiktion und Qualität literarischer Trauer Während Élisabeth Philippe und Philippe Trétiack in Sapin-Defours Werk „mal écrit“ und „platitudes“ erkennen, betont Patricia Martin die „justesse“ der Schilderung von Pflegealltag und Schockstarre. Die Diskussion spiegelt die Grenzen zwischen journalistischem Zeugnis und literarischem Kunstanspruch. ### Gasniers Debüt spiegele französische Gesellschaftskonflikte, bleibe aber zu „propre“ Mehrere Kritiker:innen attestieren Paul Gasnier ethisch lobenswerte Zurückhaltung, um rechtspopulistische Instrumentalisierung zu vermeiden; literarisch wirke dieses „excès de vertu“ jedoch als „petitesse“, weil Wut und soziale Komplexität zu stark gedämpft würden. ## Einordnung Die Sendung demonstriert die Stärke des klassischen Feuilleton-Formats: Vier Stimmen mit klar konturierten Positionen liefern pointierte, unterhaltsame Analysen. Besonders bemerkenswert ist die Offenheit, mit der die Kritiker:innen gegensätzliche Leseerlebnisse austauschen – etwa wenn Patricia Martin die nüchterne Sprache von Sapin-Defour als realistische Krankenhaus-Beobachtung verteidigt, während ihre Kolleg:innen darin schmückenden Selbstbezug sehen. Die Debatte um Cercas zeigt zudem, wie sehr das Programm politische Implikationen literarischer Werke aufzudecken vermag. Weniger gelingt eine Diversität der Perspektiven: Alle Gesprächspartner:innen sind weiße, etablierte Medienpersönlichkeiten; Stimmen aus betroffenen Milieus (z. B. Migrant:innen, Betroffene von Klerusmissbrauch) fehlen. Dennoch bietet die Folge eine souveräne, schlagfertige Auseinandersetzung mit aktueller französischer Literatur. Hörempfehlung: Wer französische Literatur auf hohem Niveau diskutiert hören will, bekommt hier eine unterhaltsame und kritische Übersicht der Saison – ideal für Leseinteressierte und Büchermenschen.