Radiowissen: Frauen und ihre Taschen - Eine desolate Lage
Die BR-Wissen-Folge zeigt, dass das Fehlen nützlicher Taschen in Frauenkleidung historisch kein Zufall, sondern Ausdruck von Macht und Geschlechterstereotypen ist.
Radiowissen
29 min read1377 min audioDer BR-Podcast "Die ganze Welt des Wissens" widmet sich in der 24-minütigen Folge "Vom Kampf um Taschen- und Geschlechtergerechtigkeit" (Autorin Vanessa Schneider) der Kulturgeschichte der Frauentasche. Als Sprecher:innen fungieren die Historikerinnen Bernadette Banner (Kostümbildnerin, YouTube-„1,7 Mio.-Abonnent:innen-Star“), Barbara Burman (Textilhistorikerin, Autorin von „Pocket: A Hidden History of Women's Lives“) und Hannah Carlson (Modehistorikerin, Autorin von „Pockets: An Intimate History of How We Keep Things Close“). Die Erzählung spannt den Bogen vom 16. Jahrhundert (gemeinsame Gürtelbeutel) über das viktorianische „tie-on pocket“ bis zur Gegenwart, in der Frauenhosentaschen laut einer Datenanalyse durchschnittlich 48 % kürzer sind als Männerhosen-Taschen.
### 1. Viktorianische „Umbindetaschen“ galten als Klassen-übergreifendes Kulturgut
Die praktischen Hüfttaschen unter den Röcken seien laut Burman „eine gemeinsame materielle Kultur“ gewesen, „die alle Klassen und regionalen Unterschiede überwand“. Herzoginnen wie Prostituierte hätten dieselbe Erfahrung gemacht – eine Erkenntnis, die laut Burman „die Modegeschichte“ in ihrer Fokussierung auf Standesunterschiede korrigiere.
### 2. Jurist:innen diskreditierten Frauen durch Taschen-Klischees
Ein 18.-/19.-Jahrhundert-Magistrate habe im Gericht laut Burman sinngemäß gemeint: „Frauentaschen hätten keinen Boden“ – was die Vorstellung eines „gierigen Durcheinanders“ bediene. Solche Stereotype führten dazu, dass Diebstahlsopfer nicht ernst genommen würden.
### 3. Taschenlosigkeit wurde zur Frage weiblicher Selbstbestimmung
Die Suffragetten nutzten laut Carlson das Fehlen von Taschen als Symbol für fehlende Rechte. Die konservative Presse habe gefragt: „Warum geben wir Frauen nicht einfach Taschen statt des Wahlrechts?“ – und damit das Ringen um beide Entwicklungen offengelegt.
### 4. Die moderne Handtasche ist auch ein Wirtschaftsinteresse
Carlson zufolge sei das Aussparen von Taschen in Fast-Fashion-Mode „teuer“; gleichzeitig erzeuge man Nachfrage nach Handtaschen – ein lukrativer Markt, der sich seit den 1920er-Jahren etabliert habe.
### 5. Kleine Taschen sind heute ein Design-Diktat statt technische Notwendigkeit
Banner konstatiert, dass auch figurbetonte Jeans funktionale Taschen erlauben würden, doch bewusst „falsche“ Taschen appliziert würden. Die Datenanalyse von „The Pudding“ belege, dass nur ein Zehntel der Frauenhosentaschen eine Hand aufnehmen könne – ein Indiz dafür, dass „rückständige Ideen über Geschlecht … in unserer Kleidung“ fortbestünden.
## Einordnung
Die Folge gelingt ein unterhaltsamer, aber analytisch durchaus ambitionierter Bogen von der Alltagsfrustration über „Fake-Taschen“ bis zur Geschlechtergeschichte. Die Redaktion nutztklare narrative Mittel: Historische Zitate, konkrete Daten (48 % kürzere Taschen) und wütende YouTube-Statements erzeugen Spannung. Kritisch bleibt, dass fast ausschließlich englischsprachige Expertinnen zu Wort kommen; deutsche oder global-südlliche Perspektiven fehlen. Die Argumentation verläuft linear fortschrittsorientiert – von besserem Mittelalter über Diskriminierung bis heutigem Kommerz – und lässt so komplexere Modewechsel oder klassenspezifische Gegenbeispiele außen vor. Auch die Wirtschaftslogik bleibt eindimensional: „Keine Tasche = mehr Handtaschenverkauf“ klingt plausibel, doch ohne Einblicke in Design- oder Kostenstrukturen der Textilindustrie bleibt sie eine These. Dennoch: Der Fokus auf ein scheinbares „Kleinigkeit“ macht strukturelle Machtverhältnisse sichtbar und liefert eine gelungene Geschichte von weiblicher Selbstbestimmung – mit praktischem Nutzen für jede:n Hörer:in, die je Schlüsselbund und Smartphone balancieren musste.