Der Ones and Tooze-Podcast beleuchtet die aktuelle politische Krise in Europa: In Frankreich stürzte die Regierung über einen Haushaltsstreit, in Deutschland kündigt Kanzler Friedrich Merz trotz Konjunkturflaute einen Sparkurs an, und Großbritanniens Labour-Regierung unter Keir Starmer verliert binnen Jahresfrist massiv an Zustimmung. Gastgeber Cameron Abadi und Ökonom Adam Tooze analysieren, wie Schuldenquoten, Reformversprechen und demografische Verschiebungen die Machtverhältnisse verschärfen. Tooze betont, dass Frankreichs Schulden zwar steigen, aber keine unmittelbare Insolvenzgefahr bestehe; vielmehr nutze die Regierung die Angst vor „Knebelung durch Gläubiger“ als politisches Druckmittel. In Deutschland hinterfragen sie die Rückkehr zur Agenda-2010-Logik, da der Exportboom durch China nicht wiederholbar sei. Für Großbritannien skizzieren sie das Risiko eines Machtwechsels zur rechten Reform-Partei von Nigel Farage, die mit Steuersenkungen, Sozialabbau und Massenabschiebungen planiert. Die Episode zeigt, wie sehr Populismus, demografischer Wandel und wirtschaftliche Stagnation die europäische Politik destabilisieren. ### Frankreichs Schuldenquote von 112 % treibt die Regierung in den Abgrund Tooze erklärt, Frankreichs Schulden seien zwar hoch, aber weder im historischen Vergleich außergewöhnlich noch kurzfristig unkontrollierbar. Die Mär von der „Zahlungsunfähigkeit“ diene politischen Akteuren als Druckmittel: „Domination by military force or domination by our creditors … produces the same result, the loss of our liberty.“ Diese Rhetorik erinnere an die Eurokrise, doch Frankreich verfüge über eine stabile Steuerbasis und die EZB werde die Liquidität nicht abreißen lassen. ### Macron hinterlässt ein zersplittertes Parteiensystem Die Gäste konstatieren, Macron habe mit seinem Zentrumsprojekt die alten Parteien geschwächt, aber keine neue Mehrheitsfähigkeit geschaffen. Tooze nennt drei Deutungen: gescheiterter Neoliberaler, „Mann der Geschichte“ ohne taktische Mehrheitsfindung oder autoritärer Reformer. Die Weigerung, mit der Linken zu koalieren, lasse die Regierung in einer „Machtlosigkeit“ verharren. ### Merz’ „Herbst der Reformen“ zitift Schröders Agenda 2010 Die Bundesregierung plane, die Sozialausgaben zu kürzen, weil der Wohlfahrtsstaat angeblich nicht finanzierbar sei. Tooze hält das für eine politische, nicht ökonomische Notwendigkeit: Die Rente werde nicht angetastet, weil 42 % der Wähler über 60 seien. Die Analogie zur Agenda 2010 greife zu kurz, weil damals der China-Exportboom folgte; heute fehle ein vergleichbarer externer Wachstumsmotor. ### Britische Labour-Regierung verliert sich in Managerialismus Starmer habe sich auf eine „anti-ideologische“ Verwaltungslogik versteift, während sich die strukturellen Probleme (Brexit-Folgen, niedriges Wachstum, Reform-Partei) häufen. Tooze wirft ihm vor, mit harter Hand die Corbyn-Links auszuschließen und sich gleichzeitig konservativen und anti-migrantischen Frames anzunähern. Die Folge: eine gespaltene Partei, eine enttäuschte Wählerschaft und die mögliche Vorherrschaft Nigel Farages mit einem Programm aus Steuersenkungen, Sozialabbau und Massenabschiebungen. ### Reform-Partei könnte das Vereinigte Königreich auseinanderreißen Ein Sieg Farages würde laut Tooze nicht nur 600.000 Menschen binnen fünf Jahren abschieben, sondern auch die Fiskalkonsolidierung mit 12 % Kürzungen bei Sozialausgaben kombinieren. Die Folge: steigende Defizite, Druck auf die BoE und möglicherweise ein Auseinanderbrechen der Union, da Schottland und Nordirland eine solche Politik ablehnen dürften. ## Einordnung Die Sendung besticht durch klare ökonomische Argumentation und historische Einordnung, ohne in Alarmismus zu verfallen. Tooze und Abadi durchbrechen simple Schulden- und Populismus-Narrative, zeigen aber auch, wie sehr demografische Alterung und wirtschaftliche Stagnation autoritäre Projektionen befördern. Besonders wertvoll ist die differenzierte Betrachtung Frankreichs: Die Gefahr liegt nicht in der Zahl, sondern in der Politik der Angst. Gleichzeitig wird deutlich, dass konservative Regierungen in Deutschland und Großbritannien Sozialabbau als alternativlos verkaufen, obwohl keine unmittelbare Haushaltsnotwendigkeit besteht. Kritisch bleibt, dass weder Expert:innen aus betroffenen sozialen Gruppen noch Vertreter:innen der europäischen Linken zu Wort kommen; die Perspektive bleibt akademisch-westlich-liberal. Dennoch liefert der Podcast eine anschauliche Analyse, wie Schulden, Demografie und Populismus die europäische Demokratie unter Druck setzen.